Das Gedächtnis der Libellen
verachtete weinende, ganz besonders aber verachtete er unangekündigt weinende Menschen. Mit wem hatte er es bisher immer zu tun gehabt, wer konnte denn so etwas wie die eigenen Tränen ankündigen? Als er sich dann eines Tages in Luft aufgelöst hatte, verschwunden war mit seiner ganzen Liebe und mit seiner ganzen Verachtung, erschien mir das auf einmal als ein und dasselbe.
Jetzt ging ich ohne Ilja durch irgendeinen französischen, italienischen, amerikanischen Regen, der sich hier auf meinem Gesicht mit den Tränen um Ilja vermischte. Uralte Tränen waren es, versalzene, aus dem Bauch der Mutter noch. Ich versteckte mich auch vor Arjeta, wollte keine Zeugen haben, wenn mein Gesicht mir entglitt. Mein kleiner Krüppel, so nannte ich mich, kleines Krüppelgesicht, das niemand küsst. Den weißen Fliesen auf dem Balkon entströmte eine sirrende Kälte, langsam, aber stetig kroch sie in mich hinein, ging wie mit Füßen meinen Körper hinauf, okkupierte meine Knie, mein Geschlecht, meine Brüste, mein Gesicht. Meine Haut schien eine einzige Verlängerung der kalten Fliesen geworden zu sein.
Als sei diese Kälte eine fremde Sprache, die ich noch nicht verstand, bemerkte ich zu spät, dass die Fliesen viel zu kalt waren und ich besser wieder reingehen sollte. Ich spürte die große Narbe aus der Kindheit an meinem linken Fuß. Die Narbe ist in meinem Fuß eingraviert, von fern sieht sie wie ein Segelboot aus. Manchmal hat Ilja die Narbe geküsst und gesagt, na, wer hat dich denn da aufgeschlitzt? Wir lachten, wer sollte mich schon aufgeschlitzt haben, sagte ich, ich bin nur in Scherben getreten. Jedes Mal, wenn ich barfuß und in Gedanken an Ilja auf den Balkon ging, dachte ich an jenen fernen Sommertag der Kindheit, an den beißenden, nie verloren gegangenen Schmerz zurück und daran, wie schnell alles rot geworden war; ach du und du in der Mädchenzeit!, in diesen Tagen hast du nicht gewusst, wie ausdauernd du einmal im Warten werden würdest; aber eines wusstest du damals doch, du hast begonnen zu wissen, wozu Wunden überhaupt da sind.
5
Kleine Pfeiler in der Zeit sind die Wunden, im dahinfließenden Leben. Kleine, kleine Hürden, die später den Namen Erinnerung tragen und in einer fernen Nacht, in einem ganz anderen Land, mit ganz anderen Menschen und in einer ganz anderen Sprache das Gleiche wie im Augenblick des Ersterlebten erzählen, und ich muss wieder zuhören lernen, so gut ich nur kann, mit meinen vielfältigen Ohren.
Am klarsten lebt das Gedächtnis auf, wenn es etwas Verlorenes zu erinnern gibt, das Glück, das man uns stahl, an diesem oder jenem Tag unseres Lebens, der verletzte Fuß, der nie wieder gesund wurde, das erste unschuldige laute Lachen, dem die Ohrfeige der Mutter folgte, ihre Maßregelung, ihre allererste Umzäunung der Tochterlust, der erste Kuss, der für immer vorbei sein wird, bei mir, bei dir, bei jedem Menschen – es ist erstaunlich und manchmal ärgerlich, dass nur der Verlust uns diese Beweise des gelebten Lebens gibt und das Glück so schwirrend verschwindet. Nur in seiner Zerbrechlichkeit bleibt das Glück archivierbar. Wir machen lange Zeit keine Erinnerungsinventur. Dabei bauen wir unser Leben der Erinnerung nach auf. Die Erinnerungsmathematik holt uns ein, noch bevor wir ihre Art Zahlen kennen, wir bauen Brücken, die uns von hier nach dort tragen sollen, ohne zu wissen, dass wir sie bauen, ohne zu wissen, welchen Gesetzen wir folgen, ohne zu wissen, dass Gesetze wirksam sind, vor allem dann, wenn wir sie nicht kennen.
Das Glück ist Glück, weil wir es nicht behalten können und weil es nicht bleibt, weil es geht, es hat lange Beine. Das Glück ist der schnellste Geher unter allen Gehern. Es liegt in der Natur des Glücks, dass es immer verschwindet, verschwinden muss und dass wir unglücklich werden müssen, wenn wir versuchen, es festzuhalten. Wenn es etwas Unhaltbares im Leben eines jeden Menschen gibt, so ist das Unhaltbarste von allem das immergleiche Glück. Wir dürfen es nicht behalten. Es sei denn, wir sehen ein, dass es dafür der Verwandlung bedarf. Ich habe das bei Ilja nicht eingesehen. Ich gehöre zu denen, die als Kinder glaubten, die Sterne wirklich zählen zu können. Meine Freunde lieben mich dafür, aber auch ich habe einsehen müssen, dass die Sterne nicht zählbar sind, genauso wie in einer echten Liebesgeschichte die Küsse nicht zählbar sein dürfen. Wenn etwas zählbar ist, haben wir es schon verloren. Gezähltes gehört zur Vergangenheit und
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