Das Gedächtnis der Libellen
ich Hunger habe und nirgendwo etwas Essbares zu finden ist, meine Art, mir die Nägel rot zu malen, als ginge es darum, mit Cézanne und dem Berg Sainte-Victoire in Konkurrenz zu treten, das Erstellen meiner Kinopläne, meine Akribie, jeden Film in einem anderen Kino zu sehen, meine Verachtung für Leute, die irgendwelche Punkte sammeln, um etwas günstiger als andere zu bekommen – all das, das wusste ich, würde Ilja nie sehen, nie erfahren, er würde nie wissen, wie ich aussehe, wenn ich einen ganzen Tag mit meinen Freundinnen in der Stadt war und bei teuren Kleidern nicht widerstehen konnte, regelmäßig kleine Hirnaussetzer hatte und erst beim Nachhausekommen mein Gehirn und mein Verstand wieder zu mir zurückkehrten, wenn ich schon viel zu viel Geld ausgegeben hatte. Und nie würde Ilja im Ansatz erfahren, wie sehr ich die Kleider brauchte, damit ich meine Haut spürte, wie sehr ich gelitten habe als Kind, weil die anderen eine Mutter und Kleider und offenbar auch Geschmack hatten, und nie würde ich ihm erzählen, dass ich die Kleider der anderen am liebsten gestohlen hätte, Einbruchsträume hatte und Kummer, dass ich niemals rote Sandalen wie die anderen hatte (nur einmal und ich verlor sie gleich), dass meine Tante Filomena nie Geld hatte, um mir irgendetwas Hübsches, geschweige denn etwas zu kaufen, das zeitgleich hübsch und rot war.
Ilja würde es für immer egal sein, warum ich große Räume brauche, warum ich Atemnot bekomme, wenn ich vollgestellte Zimmer betrete, warum es mir schnell eng wird mit einem Menschen oder in einer Wohnung. Ilja würde immer nur, das hatte ich schnell begriffen, so etwas sagen wie … aber die Wohnung, das Kleid, das ist doch alles zu teuer, ist das eine Art Inferiorität aus deiner Kindheit? Er sagte nie das Wort Minderwertigkeitsgefühl, stellte nie die Frage, ob ich mich manchmal den anderen unterlegen fühle. Er benutzte diese Fremdwörter, als könnten sie das, was sie bedeuteten, auf diese Art von ihm selbst fernhalten und würden dadurch nur etwas mit mir zu tun haben, nur mich an die Wand stellen. Dort, an der Wand, an die Ilja mich mit diesen Fremdwörtern stellte, musste ich schauen, dass ich wieder zu meiner Würde gelangte, dass ich mich dort nicht erschießen ließ, auch von keinem anderen Wort.
Ich glaube, ich habe erst gedacht, Ilja schenkte mir Aufmerksamkeit mit diesen Wörtern, aber das war falsch. Mit diesen Wörtern ließ Ilja nichts an sich heran, und so etwas wie ein Verbot ging mit ihnen einher, so etwas wie verordnetes Schweigen, denn als ich einmal den Versuch unternahm, Ilja etwas über meinen Vater zu erzählen, ergriff er die Flucht. Und später, als er wieder im Zimmer war, sagte er, du hast versucht, mich in deine Geschichte zu verwickeln. Ich bin ein armer Verrückter, meine Frau würde sagen, ja Ilja, jetzt bist du wieder da, wo du immer bist, wieder bei einer Frau, die Sehnsucht nach ihrem Vater hat, und du Ilja, würde sie sagen, mein dummer, dummer Ilja willst wieder alles verstehen. Ich schwieg. Aber du willst es doch gar nicht verstehen, du verbietest mir sogar, weiter über meinen Vater zu reden. Sein Gesicht veränderte sich, etwas Ungehaltenes zog in seinen Ausdruck ein. Die Augen blitzten, und Ilja sagte, du bist eine sehr kluge Infiltrantin, du infiltrierst langsam, aber sicher meine Blutbahnen mit deiner Geschichte, damit ich abhängig von dir werde. Er lachte dabei, umarmte mich unangenehm kumpelhaft, versuchte wieder, aus allem einen Witz zu machen. Er küsste mich, streichelte meine Wangen. Es war ein erschreckend helles Lachen. Ich hatte plötzlich nervös mitgelacht, für mich selbst überraschend laut, ich lachte, und das Lachen blieb mir als Schreck zwischen den Stimmbändern hängen. Ich schämte mich dafür, dass ich über meinen Vater hatte sprechen wollen, und versuchte nun, meine Nacktheit wieder vergessen zu machen, die Not, die ich plötzlich verspürt hatte, wollte ich mit meinem Lachen überdecken. Mit einem Mal kippte etwas in meiner Wahrnehmung, ich wollte mein Herzklopfen überdecken, ich wusste nicht, warum mein Herz so laut war, und schämte mich dafür. Das Lachen überdeckte meine Scham, aber dadurch, begriff ich zum ersten Mal, geriet ich in eine falsche Spur. Seit diesem Tag hatte ich das Gefühl, mit Ilja und mir habe sich etwas verschoben, irgendeine innere Koordinate, etwas, das uns nun trennte. Je deutlicher ich diese Trennung fühlte, desto mehr wollte ich an das Vorherige anknüpfen. Aber das ging
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