Das Gedächtnis der Libellen
nicht mehr. Ich hatte, um Ilja einen Gefallen zu tun, über mich selbst gelacht. Vielleicht war diese Selbstauslöschung seelische Notwehr, aber sie ersparte mir nicht die Angst vor meiner Geschichte, deren Tiefen sprachlos und dennoch beredt in mir wohnten.
Du hast eine Inklination zum Dramatischen, sagte Ilja nur kurze Zeit danach und rauchte dabei eine Zigarette nach der anderen auf meinem Balkon. Er sagte nicht, du hast eine Neigung oder einen Hang zu etwas, er suchte immer nach diesen harten, hochtrabenden Wörtern, die alle mit dem gleichen Buchstaben anfingen und eine zangenartige Beklemmung in mir auslösten, die ich sonst nur in dunklen Gassen fremder Städte habe, wenn ich spät nach Mitternacht mein Hotel suche und plötzlich merke, dass ich weder den Namen der Straße noch den Namen des Hotels mehr erinnere.
Ilja hatte immer Kategorien, in die er mich einzuordnen versuchte, Kategorien als Ersatz für Gefühle, deshalb hat Ilja nie erfahren, dass ich von allem zu wenig hatte, schon immer, und dass ich jetzt von allem zu viel brauche, damit ich die alten Lücken verkrafte, damit ich ausgleiche, was damals so schwer und hart zu ertragen war. Ich weiß, dass ich das niemals ausgleichen werde, und jemand, der mich ehrlich liebt, liebt und nicht nur begehrt, müsste fühlen können, dass ich um die Unerreichbarkeit der Balance weiß und dass ich trotzdem an schönen Dingen hänge wie am eigenen Leben. Arjeta sagt, was alle Freundinnen sagen, sie sagt, das mit Ilja habe sie von Beginn an gewusst, und ich könnte sie ohrfeigen dafür, weil sie es jetzt sagt und mir keine Zeit lässt, meine Trauer zu empfinden, und weil ich es nicht mag, dass sie so altkluge Sachen sagt, wenn sie mir mit ihrem Schweigen viel besser beistehen könnte. Aber anscheinend hat sie doch etwas gewusst, denn was Arjeta sagt, stimmt ohnehin, sie täuscht sich selten. Aber meine Täuschungen sind meine Medikamente, ich glaube zum Glück nicht mehr an unfehlbare Menschen.
Wie Ilja es schließlich geschafft hat, sich selbst zu sagen, dass nichts geschehen sei, dass es mich nie gegeben habe, das werde ich nie erfahren. Nicht einmal die Inbrunst eines Feindes bringt er mir mehr entgegen, die nur eine gewendete Form, die andere Seite der Liebe wäre. Er wird mir nie wieder etwas über sich erzählen. Diese Vorstellung und die Erinnerung an ihn tun weh wie eine gerade genähte Wunde. Mein manchmal aufblitzender Hass verwandelt sich dann in gärende Verachtung und hilft mir dennoch nicht über diesen Schmerz hinweg, nie eine Chance bekommen zu haben, nie bei Ilja wirklich als ich selbst, mit meinem richtigen Namen gewesen zu sein. Im Gegenteil, mein sporadischer Hass zeigt mir, wie sehr ich Ilja noch immer liebe. Ich kann mir viel ausdenken, wie immer, es ist alles möglich in meinen Gedanken, aber der größte Verstoß bleibt, dass er nicht mehr mit mir spricht und mir zuletzt Sätze schrieb wie »Du bist kostbar«, »Pass auf dich auf und bleib uns allen erhalten«, »Die Welt braucht Menschen wie dich«. Ich sei ein seltener Mensch, so etwas hat er auch geschrieben, er schreckte einfach vor nichts zurück. »Du bist jemand, den es so nirgendwo auf der Welt gibt.«
Ilja hat aus mir einen Allerweltssingular gemacht. Er hat mir Sätze und Wörter vor die Tür geschoben, wie man einem Hund einen Knochen hinwirft, so hat er mir die Sätze und die Wörter vor das Herz geworfen und auf diese Art aus sich selbst als wirkliche Einzahl gelöscht. »Natürlich bist du nicht aus meinem intimen Leben verschwunden, du lebst weiter in meiner inneren Landschaft«, schrieb mir Ilja zuletzt. »Aber alles, was wir erlebt haben«, setzte er hinzu, »ist für mich bereits jetzt schon nur schönste Vergangenheit.« Und: »… wenn du nicht mein Freund sein kannst, bitte sei auch nicht mein Feind, ich flehe dich an, verrate unser Geheimnis nicht.« Seine Frau sei alles, was er habe. »Ich schreibe es dir jetzt noch einmal auf, damit du es für immer verstehst: Sie ist nicht nur meine Frau. Sie ist mein Leben.«
10
Minne. Ilja hat so ein besonderes Wesen aus mir gemacht, das nur für die romantische Liebe gut ist. Überall tut mir die Erinnerung weh, die Haut, alle Stellen, an denen Ilja mich je geküsst hat. Die geküssten Stellen brennen weg wie williges altes Holz, trocken vom Sommer, ausgedörrt vom Mangel. Ich wollte keinen Himmel, ich wollte nur eine einfache Umarmung bekommen. Und so viel Weite der Welt bekam ich, so viele Versprechen, anstelle eines
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