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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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das Gegenteil von musikalisch – Mother, who knew no other justice than pardon and no other law than love. Ist halt einfach nur gesagt, kein Gefühl dabei, nichts, was die Sepharden damals zu uns gebracht haben, ist in diesem blöden Englisch drin, sagte Andreja und atmete wieder tief durch.
    Ich schwieg, Arjeta schwieg auch, ausdauernder als ich. Es machte keinen Sinn, Andreja darauf hinzuweisen, dass Shakespeares Sprache Englisch war. Wir hätten sie damit nur verärgert. Arjeta flüchtete in die Küche und kam erst nach einer Weile mit dem Gesicht eines Harlekins wieder ins Wohnzimmer zurück. Ich weiß nicht warum, aber alle Mütter machen ihre Töchter zu kleinen Mädchen, wenn diese gerade dabei sind, Frauen zu werden, und die Mütter wollen immer noch besser aussehen als wir, dabei sind sie schon richtig alt, haben Falten und Mundgeruch, aber jeden potentiellen Geliebten, sagt sogar Arjeta, wollen sie uns wegnehmen. Wir lachen, als Andreja gegangen ist, wir wissen beide, dass wir gar keinen Geliebten mehr haben. Sie nicht und ich auch nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben will ich mit niemandem schlafen, sagte Arjeta, und ich stimme ihr zu, mit niemandem schlafen, mit niemandem einschlafen, mit niemandem wach werden. Ich will überhaupt nichts, außer den Menschen zu verstehen, der ich selbst einmal gewesen bin, sagte ich. Willst du das wirklich, fragte Arjeta. Um Gottes willen, das führt doch zu nichts! Ja, sagte ich, das weiß ich, aber es führt dennoch zu mir. Ich brauche eine Brücke, sonst werde ich Ilja niemals vergessen können. Und mit einem Mal stelle ich mir vor, dass ich Ilja zwar einmal vergessen, aber nie wieder jemand anderen lieben werde. Dieser Gedanke, nie mehr einen anderen Menschen lieben zu können, erscheint mir nun sogar als trostreich. Ist Ilja wirklich vollkommen unglaubwürdig geworden, frage ich mich. Arjeta sagt, ja, das ist er, er hat alles ausgelöscht, auch die Unschuld des Anfangs.

    Ich weiß nicht, ob es stimmt, was sie sagt, es ist schwer, eine solche Frage zu beantworten, bezweifle aber, dass Arjeta Recht hat. Ich glaube, es stimmt nicht, was sie sagt. Man kann keine Geschichte vom Ende her auf den Anfang zurückdrehen und damit den Anfang für null und nichtig erklären. Damit würde ich auch mich selbst auslöschen, alles, was ich gesehen, gerochen, gefühlt habe mit ihm. Und doch erzählt jedes Ende einer Begegnung im Kern alles über den Anfang und den Verlauf einer Liebe. Ilja hat am Ende so getan, als sei ich nie da gewesen, und wenn ich es recht bedenke, dann war das tatsächlich überhaupt nichts Neues, nicht etwas, das auf einmal zwischen uns stand. Von Anfang an hat Ilja aus mir ein Geheimnis gemacht. Von Anfang an hat es mich nicht gegeben. Schon in Amsterdam hat er mich seiner Verlegerin, die, von uns beiden unbemerkt, das Café du Luxembourg betreten und an unserem Tisch gestanden hatte, plötzlich mit den Worten My friend … Jelena vorgestellt und mit der rechten Hand auf mich gezeigt. Aus dem Nichts heraus hatte er eine ganze Geschichte erfunden, mir eine imaginäre Biographie in einem niederländischen Café zugeschoben, wie eine Henkersmahlzeit, so schob er mir die Geschichte zu, und die Verlegerin lächelte mit einem teuflisch neugierigen Blick. Hello Jelena, nice to meet you, sagte sie und funkelte mich gierig wie eine unbekannte Speise an. Ich nickte nur verhuscht mit dem Kopf, sah auf den Boden und dachte, jetzt hat er dich zu einer anderen gemacht. Jelena. So schnell hat Ilja einen neuen Namen für mich gefunden. Ich schämte mich vor mir selbst. Ohne nachzudenken, hatte ich reagiert, hatte einfach sein Spiel mitgespielt und mich zu dieser erfundenen, imaginären Person machen lassen.
    Als hätte ich in mir schon seit jeher einen Hallraum des Geheimnisses, als sei das Geheimnis als Lebenskategorie in mir abgespeichert, in meine Gene eingeschrieben, habe ich darauf reflexartig reagiert und das Geheimnis gefüttert mit mir selbst. Ich habe alles getan, damit es mich nicht gibt. Natürlich klang alles irgendwie logisch, dass Ilja alles versteckte, was wir miteinander erlebten, das hatte Gründe.
    Anfangs hat Ilja mich nur vor den anderen geheim gehalten. Dann auch vor sich selbst. Es tat in der Seele weh wie Aceton in einer Wunde. Verstanden hatte ich, dass er mich niemals so kennen lernen würde wie ich am Morgen bin, wenn mein kastanienbraunes Haar durcheinander ist; meine Ungeduld würde ihm für immer ein Fremdwort bleiben, jene Art von Unrast, wenn

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