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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Kaffees am Morgen, anstelle eines Tees am Nachmittag, anstelle von Spaghetti, die ich am liebsten mitten in der Nacht esse, zum einen, weil sie dann am besten schmecken, und zum anderen, weil ich damit allen meinen Freundinnen gut beweisen kann, dass Spaghetti kein bisschen dick machen, auch in der Nacht nicht.
    Meine Anfälligkeit für Visionen hat sich ins Elementare verlegt. Ilja hatte zu schöne Hände, ich konnte sie nicht ablehnen. Es waren Hände, die einen im Vorübergehen öffnen. Bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr hatte mich niemand angerührt. Obwohl ich schon beschlossen hatte, Physik zu studieren, hatte mich nie der Gedanke losgelassen, in ein Kloster zu gehen. Als ich dreizehn wurde, eröffnete ich meiner Tante, dass ich Nonne werden wollte. Tante Filomena, eine durchweg überzeugte Sozialistin, sah mich entsetzt an, und im Garten, unter dem Feigenbaum, da wollte sie mir die Nonne ausreden. Aber ich weiß es ganz sicher, ich will nichts anderes lernen, sagte ich, ich will Gott dienen. Du hast dich doch schon immer mehr für Sterne interessiert, sagte Tante Filomena, willst du nicht erst einmal Physikerin werden, Sterne sind bessere Wunder als Gebete.

    Offenbar mehr aus Verzweiflung als aus einem Glauben an mich bot sie mir später an, mich in New York studieren zu lassen. Ich sollte von meiner katholischen Idee abrücken. Bis zu jenem Sommer, in dem mich Ilja endgültig der Vergessenheit anheimfallen ließ und ich die Wahrheit über meinen Vater erfuhr, wusste ich nicht, wie es meine Tante geschafft hatte, mein Studium in Amerika zu finanzieren. Aber in jenem heißen August habe ich es erfahren. Ich habe alles in diesem Sommer erfahren.

    Wie Vögel flogen die Geheimnisse und Wahrheiten mir nur so um die Ohren, Wort- und Ding- und Lebensflugzeuge, so schnell und so eisern flogen sie in meinen Kopf, als hätte ich sie ein halbes Jahrhundert in einem dunklen Zimmer eingesperrt und dort gefangen gehalten. Tante Filomena hatte nie den Kontakt zu meinen Eltern verloren. Sie bezahlten alles, überwiesen Geld für mich, ohne dass ich davon etwas wusste.
    Mit ein paar Brotkrumen am Tag und ein bisschen Wasser hatten die Wahrheiten also überlebt. Als Ilja in meinem Leben auftauchte, spürte er, dass ich jedem gefolgt war, der mir nur den Ansatz von Nähe in Aussicht gestellt hatte. Noch bevor ich es mir selbst eingestanden hatte, sprach er es aus. Du bist der Liebe wie ein Vogel den Brotkrumen hinterher gezogen, so sagte er das. Meine Heimatlosigkeit nannte er ein Den-Brotkrumen-Hinterherziehen. Er war nicht fein oder auch nur nicht alt genug, es beim Wissen zu belassen, er hatte sein Wissen ausgesprochen, ganz laut. So hat Ilja vieles gewusst von mir, obwohl ich es ihm nicht erzählt habe. Er hatte diesen Schlüssel in seinem Wesen, einen Sprach- und Lebensschlüssel, und alles in mir passte damals zu ihm. Ich habe manchmal gezittert, wenn Ilja mich nur ansah, und wenn er mich dann mit seinen Blicken in der Straßenbahn und schließlich im Bett auszog, manchmal auch einfach in einem Park, hinter dem Fluss, da habe ich schon aufgehört, mich für meine Lust zu schämen wie ich mich früher immer geschämt hatte, für meine ungeschickte Schnelligkeit, für meine flachen kleinen Brüste, für mein großes Vogelmuttermal über dem rechten Auge, für meine schwitzenden Hände und all die anderen Muttermale, die wie ein Segelboot meine beiden Knie umkreisten, als hätte sie dort jemand mit ungeschickter Kinderhand hingemalt.

    Woran es lag, dass er diesen Schlüssel zu mir hatte, und was er genau getan hat mit mir und ob er es bei den anderen Frauen auch getan hat, das weiß ich nicht. Aber wie immer, wenn ein Mensch das Leben eines anderen verändert, fragte auch ich mich jetzt, wie es überhaupt möglich gewesen war, auf einen Mann wie Ilja erst jetzt und nicht früher zu treffen, warum das Leben ihn mir nur in dieser Form zuspielen konnte, und anfangs, als er meine Gedanken wie einen Mantel aufknöpfen konnte, fragte ich mich mit der Ernsthaftigkeit einer Mathematikerin, warum mir ein Mensch wie er bisher bloß vorenthalten worden war, wie es überhaupt möglich gewesen war, ohne Ilja zu leben, ohne seine Hände, ohne sein Lachen, die Wärme seiner Schultern, ohne die Wollust, die bei den einfachsten Sätzen aus seinen Ohren, Augen und Mundwinkeln heraussprang.

    Warum denkt und sagt man Sätze wie: »All die Jahre habe ich nur dich gesucht?« Oder: »Warum sind wir einander nicht schon früher begegnet?«

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