Das Gedächtnis der Libellen
Die Pflanzen habe ich wie Wesen inspiziert, ihre Mitte gesucht, die Zahlen, die sich dort finden ließen. Ich habe mir eingebildet, ihre Sprache zu sprechen. Doch habe ich eine Mutter, ich bin ein Mensch. Auch wenn diese Mutter mir das nie gezeigt hat, geändert hat das nichts an meiner Sehnsucht, das Kind einer bestimmten Mutter zu sein.
Meine eigene Geschichte kann sich hinter einem Namen wie Nadeshda beruhigen; beruhigen und leise werden, wie ein Kind, das außer Atem ist und das sich danach sehnt, nie wieder etwas sagen zu müssen, um einmal auch ohne Sprache von den anderen verstanden zu werden. In diesem Paradox lebe ich, mit Worten umkreise ich das Schweigen, mit Worten versuche ich zu leben. Das ist gefährlich, sagte damals Ilja, wenn wir auf Widersprüche im eigenen Selbst zu sprechen kamen. Er hatte Angst. Aber es war Angst vor mir und nicht Angst um mich. Ilja hatte also Angst um sich selbst. Und auch er sagte oft etwas, das sich nicht einlöste, weil er sich nicht für seine Gefühle entscheiden konnte. Er suchte nach einem Grund für sein dauerhaftes Lebensgefühl, die Schuld. Und er konnte sich nicht für etwas anderes, schon gar nicht für ein Leben mit mir entscheiden.
Worüber redest du, sagt Arjeta, er wollte dich nicht einmal kennen lernen, sagt sie, wenn wir wieder über Ilja sprechen, was immer seltener der Fall ist. Meistens weigert sich Arjeta. Ich kann seinen Namen nicht mehr hören, sagt sie dann. Streng genommen ist er mit nichts, mit überhaupt nichts mehr glaubwürdig für dich, sagt Arjeta dann doch. Es ist ihre große Idee, sie sagt, man müsse doch die Vergangenheit umdeuten, weil erst das Ende einer Geschichte die Wahrheit über ihren Anfang erzähle. Wenn ich widersprechen will, schaut sie weg. Hat diesen Sarajevo-Blick, der keinen Widerspruch duldet. Ich schweige dann, ich kann ihr nicht widersprechen, es sei denn, ich wollte einer Todkranken sagen, dass sie selbst schuld ist an ihrer Krankheit. Also widerspreche ich nicht. Aber seit ein paar Monaten hat Arjeta sich ohnehin zurückgezogen. Ihre Mutter Andreja ist aus Bosnien gekommen. Manchmal stand sie ohne Ankündigung vor ihrer Tür, blieb drei Wochen und ging wieder, ohne sich von ihr zu verabschieden.
Arjeta und Andreja luden mich manchmal zum Kaffee ein, aber meist erzählten die beiden sich Dinge aus der Vergangenheit und ich saß still daneben, fühlte mich mit ihnen immer wie ein schicksalsloser Mensch. In der Gesellschaft der Mutter veränderte sich sogar Arjetas Aussehen. Die Mutter las an den Nachmittagen immer in einer amerikanischen Diasporazeitschrift namens Habitus, die sie offenbar abonniert hatte. Dieses Mal war es eine Sondernummer über Sarajevo. Manchmal zwang sie uns, ihr eine Stunde lang zuzuhören, und las uns die Texte vor, die sie am besten fand, oder rezitierte erst einmal die ganzen Titel, schrie dazwischen, Arjeta, brüh doch mal einen Kaffee auf, aber mach keinen Zucker rein, nur schwarzen, türkischen Kaffee, verstehst du? Arjeta gehorchte, und ich saß mit Andreja allein auf Arjetas Couch und hörte zu, lernte Titel auswendig wie »Sarajevo for beginners« oder »My grandpa Tito«, »On the trail to the Sarajevo-Haggadah« und massenweise Untertitel wie »The Serbs, Croats and Muslims each decided that they were the best friends of the Jews«, »Cities inscribe their history on walls and in objects, not in the unreliable and corrupt memories of their citizens«, »Genocide will happen again – it’s part of the barbarism of our nature« oder »These are places with terrible stories, but they are extraordinarily beautiful« und »A soldier shot me a disapproving glance. I agreed: he was entitled to his animosity«.
Dann hielt Andreja plötzlich inne, als verspüre sie einen Schauer am Rücken, suchte nach ihrem neuen Dior-Lipgloss, und während sie ihn auftrug, schrie sie auf eine Weise nach Arjeta, als sei ich gar nicht mehr da, unsichtbar, unbrauchbar, ein Störenfried, im besten Falle. Arjeta Liebes, jetzt komm mal schnell her, da ist auch ein Gedicht von Abdullah Sidran veröffentlicht. Mein Gott, was für eine Seele er hat, hier, hör dir das mal an, hier diese spaniolischen Zeilen, das musst du dir auf der Zunge zergehen lassen – Madre que non conoce otra justicia/que el perdon ni mas ley que amor. Sie hielt wieder inne, las im Stillen weiter und sagte dann mit lauterer Stimme und nun mich wieder einbeziehend, wie schrecklich, hört euch das mal an, diese amerikanische Übersetzung ist
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