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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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versteckt, diese Worte, direkt unter dem Gaumen, ein Vorratslager an Zwist. Du hast immer den Fehler gemacht, über das Vorratslager zu reden. Du hast auch Iljas Gaumen gesehen und gewusst, was dort lagert. Über seine Lust auf Huren, auf Frauen, die nicht sprechen und die sich kurze, durchsichtige Röcke anziehen wie kleine Schlampen. Du hast es ihm direkt ins Gesicht gesagt, du hast gesagt, ich weiß, du beschäftigst dich gerade mit Claude Lévi-Strauss, my darling , aber ich weiß genau, dass du eine Frau brauchst, die ein pinkfarbenes, ekliges kleines Täschchen trägt, in dem nichts drin ist, eine Taschenattrappe, eine Tasche, die leer ist, so wie die Frau selbst, und mit diesem Täschchen soll sie dich schlagen, das feuert dich an, nicht wahr, du findest so was schön, Frauen, mit sinnlos leeren pinkfarbenen, ekligen Täschchen, Frauen, die man einfach nur fickt?
    Ilja hat damals gelacht, laut gelacht, den Beginn einer wunderbaren Freundschaft angekündigt, wir, wir werden uns immer gut verstehen, das hat er gesagt, und dann hat er mir alle seine Geheimnisse erzählt, das Register seiner One-Night-Stands offen gelegt und jede Sehnsucht, auch die nach einem Mann und nach einer ménage à trois , beschrieben. Es hat alles mit meiner Idee angefangen, dass er solche Täschchen mögen könnte. Vielleicht bin ich verrückt gewesen, vielleicht habe ich wirklich geglaubt, dass ich stark genug bin, so einem Menschen auf Dauer zu begegnen. Was hatte ich mir nur unter dem Bleiben bei Ilja vorgestellt?

    Ich habe mein Leben mit dem einer Zuschauerin verwechselt, bin aber eine Zeugin, ich muss reden, ich kann nicht nur eine Beobachterin sein. Das Beobachtete verändert sich aber ohnehin. Noch während man es in Augenschein nimmt, wird es schon etwas anderes. Die Unschuld des Zuschauens gibt es nicht. Selbst die Ethnologen haben im letzten Jahrhundert begriffen, dass das von ihnen Gesehene immer einer Deutung unterworfen ist. Wir wissen seit Werner Heisenberg, dass wir nichts objektiv beobachten können, weil sich das Beobachtete durch den Akt des Beobachtens verändert. Und was tat meine Seele? Sie ging völlig unwissenschaftlich vor. Ich wartete und hinkte sogar den Erkenntnissen der Ethnologen und Physiker hinterher, bis ich merkte, dass das nacktfüßige Herumstehen auf meinem Balkon nichts mit dem Leben zu tun hatte, wie ich es mir wünschte. Du wartest nur, sagte ich mir, so wirst du nie erfahren, wo Gott wohnt. Es ist nur Wünschen, so wirst du nie richtig denken. Dieses Warten und Wünschen in deinem privaten Zeittunnel, es wird dich in eine Fliege verwandeln, kopflos wirst du dich gegen Fensterscheiben werfen; dein Warten darauf, dass einer kommt, zurückkommt, zurück zu dir, dass er dich meint, dich nicht vergisst, dass du es bist, die der andere wirklich liebt, was auch immer wirklich ist und was auch immer Liebe meint und wer auch immer du bist – dieses Warten ist das Gegenteil von Leben. So erfahre ich weder, wo Gott wohnt, noch wo ich wohne; das wirst du nie erfahren, ging mir durch den Kopf, da war es wieder Sommer, und es wurde wieder Herbst und wieder Winter, und ich wartete noch immer, als ob Ilja alles stehen und liegen lassen könnte, von heute auf morgen, nur für mich. Ich bin vielleicht doch in jenem Stadium des Sternezählens stecken geblieben, immer bereit, dem Wunder zu glauben. Was aber ist bloß ein Wunder? Und was tut ein Mensch, der darauf wartet, dass ein Wunder geschieht? Vielleicht sind die Ludologen die heutigen Wunderforscher. Sonst gibt es zum Wunder eigentlich nichts zu sagen, außer dass alles, was da ist, notwendigerweise ein Wunder ist und nicht nur das aus dem Gewohnten Heraustretende.

9
    Ich habe das Wunder immer nur erahnt, in seiner Vielfalt, aber auch in seinem Verhängnis. Zeichen hingegen habe ich immer mathematisch gedeutet und erbsengleich zusammengezählt. Mehr als froh bin ich, dass ich nicht mehr Physikerin bin und jedenfalls nicht mehr durchgängig in Formeln denke. Ich fühle Buchstaben und betrete mit Sätzen die Plätze dieser Welt. Natürlich würde ich viel, viel lieber schweigen, aber das Schweigen ist ein zweischneidiges Schwert. Es ist möglich, in Wörtern still zu sein, und es ist möglich, mit dieser Art Stille etwas zu sagen. Schweigen, nur Schweigen, das wäre die Fortsetzung meines alten Lebens, meiner Kindheit, meines ersten Staubs. Ich bin aber nicht nur die Tochter der roten Erde, die ich manchmal mehr liebte als den magischen Engelwurz oder den Klee.

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