Das Gedächtnis der Libellen
Warum ist es möglich, den Verlauf der eigenen äußeren Zeit mit dem Fließen einer anderen zu verbinden? Gerade das kompromisslose Stranden der eigenen Gefühle im anderen bildet jenen inneren Raum, in dem die Würde entsteht und zur Einheit zwischen zwei Menschen wird, die noch vor kurzem Fremde füreinander waren.
Die Vergangenheit rückt an einen näher heran, so wie man früher als Kind an den warmen Ofen in einem kalten Winter herangerückt war. Und alle Dinge berühren sich in Verwandtschaft, beweisen die Welthaltigkeit der Liebenden – sogar die Wege beider Menschen scheinen einander schon seit jeher gesucht zu haben, ohne dass die Liebenden etwas von der Akribie ihrer Wege gewusst hätten.
Man sieht dann in die Zeitschleuse hinein, sieht, versteht, riecht und schmeckt, hier war man zeitgleich, hier ist einer früher, hier der andere danach abgereist, man hätte sich treffen können, an der Gare de Lyon, auf der Michigan Avenue, direkt bei der Radio City Music Hall, schon längst, man hätte Kinder haben können zusammen, Kinder und Erzählungen über lange kalte Winter und trockene Sommer, über das Blau des Himmels und die Leuchtkraft des zusammen verbrachten Augusts auf irgendeiner mediterranen Insel. Aber die Zeit hat sich als Maler betätigt und die Wege und die Uhren und die zukünftigen Kinder ausgemalt mit neuen Straßen, und dann ist es der eine März, nur dieser eine Monat, in dem du den anderen treffen, ihm begegnen kannst, bevor der Maler alles wieder übermalt, in dir, in deinem Ilja, in dem Monat März, den du so geliebt und in dem du so gelitten hast, und alles wird wieder anders, die Korridore der Gegenwart schließen sich für dich. Jemand kommt vorbei, ein Kofferträger, er packt alles in den Koffer ein und schmeißt ihn fort, Ilja geht es gut, er will keine Zeugen mehr haben, will lieber den Monat März auslöschen. Nur du hängst fest in der Zeit, glaubst an das Erlebte, glaubst an die Dinge, die dein Leben verändert haben und an denen du derart schwach geworden bist, allein wie noch nie. Deshalb bist du auf gar keinen Fall bereit, Ilja und sein Lächeln und seine Schultern und seine Muttermale und seine bunten T-Shirts und seine Lieblingsfilme und seine Bücher zu vergessen, schon gar nicht seine paranoide Art, überall Spione zu wittern, dieser Wesenszug an ihm hatte dich sogar erheitert.
Dann merkst du, dass du nur in der Märzerinnerung leben kannst, wenn Ilja sie mit dir teilt. Aber er hat den Erinnerungskoffer in den erstbesten Fluss geschmissen. Du weißt nicht einmal, in welchen, hast keine Ahnung, ob es ein französischer, ein deutscher, ein niederländischer, ein russischer, ein amerikanischer oder ein italienischer Fluss war. Aber irgendwo, in einem der Flüsse dieser Erde, fließt deine Liebe weg, die jetzt für Ilja überflüssig geworden ist. Lästige Liebe, lästiges Glück. Und da dieses Bild der fließenden Flüsse dich nicht mehr loslässt, weißt du für immer und mit Gewissheit, dass Ilja dich geopfert hat. Und dass man nur etwas oder jemanden opfern kann, das oder den man liebt, so weit bist du schon einmal. Das macht das Opfer aus, wäre es eine Gabe, könnte man sie weiterreichen, als Gewinn erhalten. So kann es nur dem dienen, aus dem es geformt ist: der Opferung. Nicht weil er dich nicht geliebt hat, sondern weil er dich geliebt hat, opfert Ilja dich jetzt. Und das ist der böse Schmerz daran, den wirst du nie mehr loswerden. Erst nach der Opferung wird die Liebe klein sein wie eine klitzekleine Maulbeerfrucht, trocken und klein, elend trocken und elend klein, so dass niemand mehr ahnen wird, wie prall Maulbeerfrüchte sein können, wie dunkelrot, wie betörend feucht. Und keiner kann sich mehr vorstellen, wie sie einst aus Kinderhand geschmeckt haben und dass du sie als Kind bis zum Umfallen gerne gegessen hast, danach, wenn nichts mehr in dich hineinpasste, hast du dich mit den Maulbeeren angemalt, deinen Mund, deine Augen, deine Fußzehen, deinen Bauchnabel, dein Geschlecht, deine Knie. Alles hast du in das dunkle Rot der Maulbeere getaucht, so, als sei die Fruchtfarbe deine zweite Haut, deine Membran für Gespür, für das Leben. Du hast geglaubt, das Maulbeerglück sei für immer da, Glück auf Vorrat, an jedem neuen Morgen, gut, um jeden bösen Traum zu vertreiben. Als du Ilja vom Maulbeerglück erzählst, siehst du es an seinen Lachgrübchen, dass er weiß, was du meinst. Er sagt, ich habe in den Maulbeeren gelesen wie in Büchern. Und jetzt denkst du
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