Das Gedächtnis der Libellen
an die Bücher von Danilo Kiš, daran, dass er nach eigener Aussage der letzte jugoslawische Schriftsteller war, denkst daran, dass Ilja und du, dass ihr beide diesen letzten jugoslawischen Schriftsteller zu einem Zeitpunkt geliebt habt, als alle anderen Drogen genommen und sich mit lauter Musik und Kokain betäubt haben, auf der Flucht, in fremden Ländern, du denkst an die Lektüre von damals, an die Jahre, als du anfingst, dich deiner Herkunft zu stellen. Da hast du nicht gewusst, dass Ilja ein Synonym für deine Herkunft werden würde, das Gleiche bedeuten würde wie ein Nierenstein, der für immer in deiner Erinnerung festhängt und den niemand mehr entfernen kann.
Du hast gedacht, dass du anders sein wirst als alle deine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, die ausnahmslos alle Nierensteine haben, du, du hattest so etwas nie. Ilja hat dafür gesorgt, dass deine Art Nierenstein wächst, weil er ein fleißiger Abraham war, der seinem Gott treu bis zum Schluss gedient hat, so treu, dass er Gottes Rückzug gar nicht bemerkte und dich einfach opferte, nicht nur als Frau, sondern auch als Menschen. Da erst fängst du an, Ilja für seine Schwäche zu verachten, weil du es ihm nicht verzeihen kannst, dass das Einzige, was er von sich dagelassen hat, dieser wachsende Nierenstein ist, und du siehst jetzt, dass er zu jenen Menschen gehört, die viel reden und wenig halten können. Du siehst es an den Sätzen, die er einst sagte, an Sätzen wie »Ich achte auf Menschen«, »Ich sorge dafür, dass jene, die ich liebe, in meinem Leben bleiben, egal wie«. Er hat nichts davon eingelöst, er hat dich einfach wie eine Ratte vergiftet. Aber du hast nicht gefragt. Du hättest nach dem Wie fragen müssen. Du bist auf Worte hereingefallen, wie in einem Schlager ging es zu in deiner Liebe zu ihm: paroli, paroli, paroli . Er hat dir diesen Abschiedsbrief geschrieben, mit diesem ganzen Herzensgift drin. Und dann hat er dir auch noch eine Karte geschickt, mit diesem lächerlichen Satz von Lucretius, mit zwei lächerlichen Kirschen, grauen Kirschen (von roten Maulbeeren keine Spur), wahrscheinlich hat er die Karte schnell in irgendeiner amerikanischen Post gekauft und du bekommst diese kleine Postkarte am letzten Tag des Jahres, du liest sie immer wieder, während du draußen im Schneegestöber gehst und gehst und gehst. Das Erste, was du siehst, das ist Iljas hässliche Handschrift, die sich mit jedem Wort ratlos ändert, einmal gehen die Buchstaben nach rechts, einmal nach links, einmal stehen sie gerade herum, wie Soldaten, geschicktes Spalier. Jedes Wort, eine neue Variation der Schrift. Es ist genauso wie mit Iljas Gesichtern, alles variiert immer in ihm, weil es keine Mitte gibt, von der aus er sich denkt. Aber genau das hast du damals an ihm geliebt, sagst du dir, während du durch die Straßen deiner Stadt gehst. Weil du genauso warst wie er. Du weißt, das macht er nicht aus Überheblichkeit. Er kann einfach nicht anders. Aber du schwörst wieder etwas (dabei hast du früher nie geschworen und wolltest niemandes Frau sein), ihn für immer zu hassen, weil er dir diesen Lucretius-Satz geschickt hat, mit dieser kümmerlichen Kirschkarte in Grau: What is food for one man is bitter poison to others. Es ging um Nahrung? Ein hungriger Abraham. So etwas gibt es nicht einmal in der Bibel.
Vielleicht hätte ich Ilja nie verachtet, wenn er uns jene fünf Tage im Sommer tatsächlich geschenkt und sie nicht wieder gestohlen hätte. Wir hatten eine Reise nach Split geplant, fünf Tage, die wollten wir herausschneiden aus dem Verlauf der Zeit. Wir glaubten, es könnte möglich sein, ich glaubte es und Ilja sagte es und alles, was Ilja sagte, glaubte ich sofort, ohne zu fragen, ob er es auch glaubte oder nur sagte, wie man eben Dinge sagt, die für das Vergessen gemacht sind.
Er hatte gesagt, diese fünf Tage, die brauchen wir, unsere Liebe verdient diese Zeit. Wir müssten sie herausschneiden, aus den Uhren, aus dem Leben, aus den Nieren der Liebe. Ich wusste, es würde schöner als schön sein und schrecklicher als schrecklich. Am Ende der fünf Tage würde er mich verlassen und wieder fortgehen, wieder in seinen Hafen, den er brauchte und liebte und nicht verlassen wollte. Ich versuchte nur an Split zu denken, an die Palmen, an das blaue Meer, daran, dass ich in dieser Stadt so oft mit Tante Filomena spazieren gegangen war, dass ich die seltenen Momente des Glücks mit Vater und Mutter in dieser Stadt erlebt hatte, dass ich immer froh
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