Das Gedächtnis der Libellen
hatten wir gelernt, unsere Wurzeln oder die Wurzeln unserer Eltern, der alte Balkan, all das spielte weiter Klavier in uns. Wir merkten es nicht, wir gingen weiter, die Welt, die Städte, die Cafés durchquerend, alles stand da und wir gingen hin, blieben, reisten ab, verpassten einander im Gehen und im Bleiben, so oft schon waren wir aneinander vorbeigegangen, und jetzt, jetzt hatten wir uns getroffen. Die Mathematik der Zeit, so nannte ich das, wir konnten uns nicht früher treffen. Na also, das war nur jetzt möglich, hier, in diesem Hotel, an dieser Gracht, so, nur so, so sagte es Ilja. Am Ende hatten wir uns aber nur getroffen, um uns an uns selbst zu verlieren, ein Treffen, das nur ein Abschied war, eine Begegnung, die nie einen Anfang hatte, die in allem, auch im Beginn, schon das Ende in sich trug. Die Mathematik des Verpassens machte mehr Sinn als mir lieb war. Ich habe gelernt dankbar zu sein, gerade für das, was ich nicht bekommen habe. Manchmal haben Geschenke etwas Ungemütliches, sie zeigen sich im Entzug des Erwünschten.
Aber eins nach dem anderen: Ilja ist nicht der Einzige, der versucht hat, mir etwas anderes über mich zu erzählen als das, was ich ohnehin schon über mich wusste. Nur ist er nicht bei mir geblieben. Ilja hatte nie vor, bei mir zu bleiben. Meine Freundin Arjeta sagt, Ilja habe sich nur meine Nacktheit genommen, die Nacktheit, das, was unter der Haut wohnt, nicht den Körper. Das hatte Ilja nicht nötig. Die Nacktheit habe er sich genommen, um etwas über sich selbst zu lernen. Mir wurde immer schlecht, von innen schwindelig, wenn Arjeta solche Sätze sagte, mir kam vor, sie tröste sich selbst damit, für irgendetwas aus ihrer eigenen Vergangenheit, und mir war nicht klar, was das sein konnte. Ihre Vergangenheit hielt sie wie eine versiegelte Kiste unter ihrer Zunge versteckt. Und wenn ihre eigene Vergangenheit sie manchmal einholte, dann sagte sie in diesen Lebensmomenten so etwas, sagte, dass alles Lernen ist, dass Iljas Seele diese Dinge lernen wollte, er selbst natürlich nicht. Ich musste lachen, natürlich nicht, Ilja will doch Spaß haben im Leben.
Ich habe erst viele Jahre später verstanden, dass ich noch nie etwas so sehr missverstanden habe, wie ich Iljas Liebe missverstanden habe. Meine Täuschung kann ich mir selbst nur langsam, nur Schritt für Schritt, oft nur tageweise verzeihen, jetzt, da ich sehe, dass ich von Anfang an hätte sehen können. Aber diese Augen, solche Art Augen hatte ich nicht. Ich habe zwar von innen geschaut, aber mein Innen war noch zu weit im Außen und so bin ich blind in mein Verderben hineingerannt und bin dabei auch noch schwanger geworden. Zum Glück hat Arjeta mir keine Vorträge über die Absichten meiner Seele gehalten. Es ist mir egal, ob meine oder irgendeine andere Seele mir damit etwas beibringen wollte oder nicht und ob es ein solches Lernen überhaupt gibt, es gibt ohnehin nur das Leben mit den Ergebnissen, ein Dasein im Haus meiner eigenen Erfahrungen, und woran ich mit zwanzig zu sterben geglaubt habe, führt mich heute hinaus auf die Wiese. Ich gehe dann spazieren, im Wind, schaue mir den Himmel an, die Wolken und weiß noch genau, wie es damals war, als das Spazieren nicht geholfen hat, der Wind nicht, der Himmel nicht und die Wolken auch nicht. Jetzt ist Iljas Sohn hier in meiner Welt, und Ilja wird nie erfahren, dass er einen Sohn hat und dass ich ihm den Namen Ezra gegeben habe. Er kommt aus dem Hebräischen und bedeutet Hilfe. Ich habe sicher geglaubt, dass Ezra mir helfen kann, Ilja zu überwinden. Aber Ezra zeigt mir mit jedem Tag etwas über meine alte Gewohnheit, mit offenen Augen in mein Verderben zu rennen.
Es war schön, ich will es nicht anders sagen, ich habe das Verderben mit Ilja genossen. Ich habe es für echtes Leben gehalten und passable Surrogate bekommen, Worte als Ersatzworte, denn eingelöst wurden sie nie. Irgendwann habe ich die Ersatzworte angefangen zu hassen, die Worte, nicht Ilja, ihn werde ich niemals richtig hassen können, obwohl er mir das vorausgesagt hat, der kleine grünäugige Prophet. Mich selbst habe ich angefangen zu verachten, für meine Bedürftigkeit und dafür, dass mir jeder Straßenbettler ein Ersatzwort geben kann und dass ich ihn dafür liebe, für seine Ersatzblicke und Ersatzworte und Ersatzaugen und doch, ich liebe ja alle, die da und hier sind, alle Menschen sind Freunde im Vorübergehen. Meine Anhänglichkeit, meine Art, mich an die Wörter wie an Häuser zu lehnen, die
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