Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
Vom Netzwerk:
weg sind oder wenn alle auf dich zugehen, dich küssen zur Ankunft oder zum Abschied, dann bist du als Mensch plötzlich immer alle Menschen, die du je getroffen, berührt und geküsst hast. Unser Schicksal ist es, alles zu wissen, und doch ist das nicht wertvoller als der Flug der Vögel. Wir hören nicht wie die Vögel, dass die Rocky Mountains singen. Diese Ohren haben wir im Laufe unserer Entwicklung verloren. Wir hören nur laute Dinge, wir wissen, wie sich Schüsse anhören, Tellergeklapper, ein Streit oder Flugzeuge, wir haben keine Vorstellung mehr davon, dass die Luft singen kann, es sei denn, wir hören den Wind und lieben zum ersten Mal und ahnen, dass der Sommer Treppen haben kann. Aber die wenigsten von uns nennen den Wind Gesang. Es würde uns Angst machen, in einer Welt zu leben, in der die Stille eine Sprache ist und in der die Luft singt. Nur wer schweigen kann, richtig schweigen, auch in seiner Erinnerung, wer also auch dort ein rückschauendes Schweigen hat, in seinem Kopf, in seinen Fingerkuppen, der kann hören, auf diese Art sein Gehör gebrauchen und Teil jenes Gesangs werden, der die Vögel auf Reisen schickt und zeitgleich den Weg weist zu ihrem Ziel. Ilja hat geglaubt, dass ich solche Dinge kann, er hat mich für etwas geliebt, zu dem ich nie fähig war, denn ich konnte es mir nur vorstellen.

    Unsere Vorstellungskraft sei alles, sagte Ilja, das Größte dem Menschen Gegebene. Damals hat mir dieser Satz einen Stich versetzt, aber ich war anfällig für solche Sätze, sie waren wie Zauberei für mich. Heute weiß ich, dass schon in den ersten Stunden, und Ilja sagte diesen Satz in unseren ersten gemeinsamen Stunden, sein Vermögen nicht groß genug war, das Imaginäre zu verlassen, um in der Wirklichkeit einer gemeinsamen Küche anzukommen. Mein Körper war damals schon schlauer als ich, ihm tat Iljas Sprache von Beginn an weh. Und als wir uns später in Amsterdam und anderswo trafen, konnte ich neben ihm nie einschlafen, der Körper weigerte sich, er war im Erste-Hilfe-Einsatz, während ich mir Dinge wünschte, die sich mit Ilja nie einlösten, und obwohl alles gesagt worden war, wollte ich etwas anderes glauben. Ach Pferd aus der Kindheit! Warum bist du zurückgekommen damals, warum hast du mich trotz deiner traurigen Augen dennoch glauben lassen, dass dein Platz bei den Menschen ist und nicht irgendwo draußen in den Weiten der Wälder, wo du, wie ich glaubte, doch am nächsten Tag bestimmt gestorben wärest.

    Manchmal kann ich schweigen, lange, am Stück, bis die Zeit verschwindet, sich zurückzieht in mein Inneres und in das Innere der Welt, und dann bin ich nicht einmal mehr Nadeshda, nicht einmal mehr Teil der Zeit, ich werde etwas Unmessbares, Teil einer unsichtbaren Natur, die keinen Namen hat. Dann wieder vergehen Monate und ich bin voller Geräusche, krank vor Geräuschen, habe nur die Buchstaben meines Namens und nichts steht hinter ihnen, kein Schweigen, kein Wind, kein Gesang, keine Herkunft, die mich stützt. Ich sagte einmal zu Ilja, vielleicht werden wir eines Tages alle ohne Sprache leben müssen, zur Strafe dafür, dass wir nicht richtig schweigen können. Ilja hat sich gewehrt, mit großer Vehemenz, er hat gesagt, ich habe nichts übrig für diese Sufi-Weisheiten. Gerade in solchen Momenten hatte er das Gesicht eines glaubwürdigen Propheten. Ich habe ihm sofort Glauben schenken wollen. Aber ich habe vergessen, dass jeder von uns, jeder, der nicht schweigen kann, sich gegen einen solchen Satz wehren muss.

    Meine Geschichte ist im Kleinsten verwoben mit Iljas Geschichte. Nach all diesem Warten und Hoffen und Warten denke ich jetzt manchmal, dass das überhaupt nichts Besonderes ist, dass Geschichten ineinander übergehen. Ich kann auf diese Weise für Momente friedlich sein, mir vorstellen, dass Ilja und ich, dass dieses mich wärmende Wir austauschbar ist, dass doch alle Menschen und alle Geschichten auf irgendeine Art und Weise miteinander verwoben sind, nur dass die Menschen nichts davon merken, weil sie verstrickt sind in vielen anderen Lebensläufen und noch keine Ohren haben, die mehrspurig hören und mehrspurig das Gehörte an sie weitergeben könnten. Hier und dort hätten wir längst einander treffen können, in Paris wären wir uns beinahe einmal in die Arme gelaufen, damals, als Ilja noch nicht verheiratet war, vor etwa zehn Jahren waren wir an diesem oder an jenem Ort, im Olympia hatte er ein Konzert besucht, dort war ich den Tag darauf gewesen, Sprachen

Weitere Kostenlose Bücher