Das Gedächtnis der Libellen
nur wortlos nebeneinander eingeschlafen wären.
Die Müdigkeit am nächsten Tag umschloss meinen Körper wie eine Aureole und weckte noch mehr die Lust auf Ilja, als sei Ilja Medizin für meine Beine, Nieren und Augen, für meine Wangen, Haut und Erinnerung. Nach zwei Tagen mit Ilja entdeckte ich meine Lachgrübchen. Immer hatte ich die anderen Menschen für ihre Lachgrübchen bewundert und nie gewusst, dass ich selbst welche hatte, auf beiden Wangen, da standen sie wie ein Segen in meinem Gesicht. Ich suchte sie lächelnd mit meinen Fingern im Dunkeln, wenn ich neben Ilja lag, mein Bauchnabel an seinen Rücken gepresst, wie ein Kälbchen, das ohne seine Wärme zu sehr zittern würde.
Manchmal stecke ich im Erinnerungstunnel fest, denke nur an die schönen Erlebnisse, überblende das Ende vom Ganzen. Aber was genau bedeutet Ilja für dich jetzt? Das fragt mich Arjeta immer, wenn ich einen dieser Erinnerungsrückfälle habe und dann den ganzen Tag weinen muss, während ich mir immer wieder sage, dass ich ihm niemals mehr irgendetwas über mich erzählen würde, schon gar nicht, dass ich noch immer seinetwegen weine.
Ilja hat mich in nur drei Tagen nackt gemacht, ja, so muss ich es sagen, nackt vor mir selbst. Und das hat niemand vor ihm geschafft. Auch meine Mutter nicht, in der frühen Kindheit, als sie noch meine Mutter war und nicht nur eine Frau im fernen Amerika. Meine Geschichte ist mit der Geschichte meiner Mutter verbunden, auf eine Weise, die mir nicht gefällt. Auch die Verwandtschaft zu ihr würde ich am liebsten ausradieren, ließe sich Verwandtschaft so auslöschen; aber ich kann nur Papier beschriften und Sätze überschreiben, die mir nicht gefallen. Die Tatsache, dass ich mir einen neuen Namen genommen habe, kann genauso wenig etwas daran ändern, dass ich für immer, allen meinen Wünschen und Absichten zum Trotz, die Tochter dieser Frau bleiben werde, einer Frau, die stets geschwiegen hat, geschwiegen und weggeschaut, wenn sie mir hätte helfen können, wenigstens ansatzweise meine Würde zu retten. Mein Vater ist natürlich auch noch da, vor allem er, der am liebsten sein Gesicht verkauft hätte – wenn es einer für Geld hätte haben wollen. Vater und seine Vorliebe für Diktatoren. Ich kann es bis heute nicht verwinden, dass mein Vater Hitler und Stalin geliebt hat. Er selbst hat von Liebe gesprochen. Ich habe an seinen Sätzen wie an einer Krankheit gelitten und die Augen zugemacht, wenn er anfing, das gebratene Gehirn eines Tieres mit bloßen Fingern zu essen und die Reste mit Weißbrot und Olivenöl aufzuklauben.
Das Wegschauen hat nicht geholfen. Ich habe es immer vor meinem inneren Auge gesehen, zu oft hatte ich es mit anschauen müssen, und die Bilder hatten sich selbstständig in mich gelegt. Das Wetter konnte ich nicht beeinflussen. Es kam von allein und ging von allein. Ich konnte die Augen schließen, wann immer ich wollte, Vater und alles, was Vater aß, sagte oder schrie, alles schrieb sich in mich ein. Ich war das Buch, in das er seinen Appetit, seine Wörter, seine Schreie ablegte. Er blätterte, ich war nur das Papier, ich gehörte ihm. Er sagte es oft. Er sagte, du gehörst mir, du bist mein Blut, ohne mein Blut hättest du keine Augen, keine Lunge, kein Herz und keine Gedanken. Du wärest ein Tier, ein Käfer, draußen auf dem Feld, eine miese kleine Mücke, die andere Leute sticht und im Sommer nervt, wenn keiner gestochen und genervt werden will.
Ob ich es irgendwo gelesen oder selbst erlebt hatte, ich weiß es nicht mehr, aber mit einem Mal war ich überzeugt davon, Vater habe vor seiner Flucht nach Amerika, denn in der Zwischenzeit war ich mir sicher, dass es sich um eine Flucht handelte, allen Mädchen im Dorf die bunten Schuhe, vor allem die roten, von den Füßen weggestohlen, um sie entweder unter dem alten Maulbeerbaum zu verbrennen oder mit der Axt unter den Augen der weinenden Mädchen wie ein armes Tier zu zerhacken.
Ich erinnere mich gut an die Tage, bevor meine Eltern verschwanden. Im Dorf schien jeder etwas vor sich hin zu flüstern. Ich hörte die Alten und die Jungen überall hinter vorgehaltener Hand reden, über mich, über uns, denn wenn die Leute mich sahen, schwiegen sie auf einmal. Es war ein Schweigen, das sich damals wie ein Messer in meine Erinnerung schlafen legte, und das Messer hat mich bis heute nicht vergessen. Die Zigeuner zogen auf ihren Wagen zur Küste hin. Ihre bunten Kleider und ihre fröhlichen Bewegungen schrieben sich in mein
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