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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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ruhig zu werden und mich nicht mehr erinnern zu wollen. Jedes Mal, wenn ich es aufgebe, wenn ich mich nicht mehr mit der Arbeit der Erinnerung messen will, bin ich ohne mein Zutun in sie verwickelt, auch die Physik mischt sich ein. Besonders dann, wenn mir etwas nahegeht. Dann denke ich wieder in Formeln und versuche mir die Wichtigkeit meiner Gefühle im Hinblick auf die Ewigkeit und die Weite des Universums vorzustellen, und eine Einsamkeit kommt über mich, die mich wie Wetter überfällt, hinterrücks. Ganz vom Rückgrat her kommt sie, diese Art Einsamkeit, die dir das Recht auf Herz und Wärme und Liebe und Wehmut nimmt, weil die Physik ganz anders geht, in einem anderen Tempo geht, ganz anders als die Herzen und die Wärme und die Liebe und die Wehmut zwischen Liebenden gehen. Du bist allein in deinem Tun, das denkst du und dann kommt sie dir in den Sinn, diese andere Frau, die du für Momente so gern hast wie einen echten Menschen.
    Iljas Ehefrau ist gefangen in ihrer Vorstellungskraft. Sie hat mich getroffen, sie hat es sofort gewusst, dass Ilja mich liebt, jedenfalls damals geliebt hat, jedenfalls ansatzweise das getan hat, was man einen anderen Menschen lieben nennt. Wir haben uns angesehen, die andere und ich, in die Augen haben wir einander geschaut, immer wieder. Let’s spread out , hat sie gesagt, einfach so, als würde die Welt klarer geworden und ich dann aus ihr verschwunden sein, wenn wir uns alle in jenem italienischen Restaurant wahllos verteilt hätten. Vielleicht wusste sie nicht, dass to spread auch auf mehrere Schultern verteilen heißen kann oder auch ausbreiten - Feuer breitet sich zum Beispiel aus.
    Ich blieb sitzen, in einem schwarzen Kleid, das eigentlich eng anliegen sollte, aber über den Winter war ich so dünn geworden, dass es nur so an mir herunterhing, genauso wie mein grüner Schal aus Pakistan. Es war März, und der Schnee fiel, Prenzlauer Berg, in der Kulturbrauerei spielten sie Musik. Später habe ich alles vergessen, später, da schien es, als hätte sie diesen Satz nie gesagt und als hätte ich nie gemerkt, dass sie mir gegenübersaß und diesen englischen Satz sagte und es der einzige Satz blieb, den ich mir von ihr gemerkt habe. Als sie mir in die Augen sah, verstand sie gleich alles, und ich sah, dass sie sah und ich wusste, dass sie wusste, alles, wir wussten alles voneinander. Sie entschied sich aber, so zu tun, als hätte sie nichts in meinen Augen gesehen und nichts gewusst, was es zu wissen gab. Wir senkten beide die Blicke zu Boden, ich sah ihre Schuhe, mit hohen Absätzen, ein flimmerndes Lackgrau, wie in Filmen, wie Schuhe der beiden Schauspielerinnen aus David Lynchs Mulholland Drive .
    Ich bin auch gefangen in meiner Vorstellungskraft, jeder, der liebt, stellt sich die Liebe auch vor. Aber ich habe nicht gewusst, dass Liebe manchmal nur in einem kleinen Zeitkanal möglich und dennoch auch Liebe ist. Ich habe mir vor Ilja immer etwas abstrakt Großes unter ihr vorgestellt, die Welt, das Ganze. Aber ist die Begrenzung nicht genau der Rahmen, in dem sie sich entwickelt? Was aber, wenn es keinerlei Wirklichkeit für irgendeine Art von Liebe gibt, kann man dann überhaupt von Liebe sprechen? Liebe ist ein Wert an sich, immer, selbst dann, wenn er nicht geteilt wird vom anderen. Die Einlösung der Liebe ist aber am Ende etwas ganz anderes als ein idealer Wert, sie ist an die einfachsten Dinge gebunden, an das Teilen, an das Frieren im aufkommenden Winter, wenn man gemeinsam in einem warmen Café saß und danach ins Offene des Wetters wie in ein Messer rannte, Hand in Hand, gebunden also an das Banalste wie an den Schweiß im August, wenn man sich seiner Menschlichkeit in diesem Monat schämt und grundlos ein Eis nach dem anderen essen könnte?

    Immer wenn ich versuche, etwas über mich zu erzählen, strömen die Gesichter und die Geschichten der anderen in mich und dann auch gleich aus mir heraus und ich sehe, dass ich kein Singular sein kann, nie Einzahl gewesen bin. Wenn ich etwas darüber zu sagen versuche, dann spüre ich immer, dass ich das am besten mit dem Schweigen könnte. Aber keiner versteht mein Schweigen. Ich verlange zu viel, das weiß ich, denn niemand schweigt so wie man selbst. Man ist mit seinem Schweigen allein, so wie man mit seinem Tod allein sein wird. Man ist allein, von Geburt an, und dann geht man allein, stirbt allein, obwohl man sich eingebildet hat, das ganze Leben lang, dass man ein Plural ist, war, gewesen sein wird. Und dann, wenn alle

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