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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Boulevard Raspail. Aber ich schreckte davor zurück, hatte nie auf den Straßen dieser Stadt ein Kleid an. Auch das schönste nicht, lediglich in der Umkleidekabine hatte ich die Kleider angezogen, um sie anzuprobieren. Dennoch war eine neue innere Freude an den Kleidern in mir erwacht. Fortan schlenderte ich über die Boulevards und Avenuen mit meinem spezifischen Kleiderauge. Ich sah schon an den Schaufenstern der Boutiquen, ob es da etwas für mich geben konnte oder nicht. Einmal habe ich in Alexandria sogar aus einem Bus eine Boutique erspäht und bin ein paar Straßen weiter aufs Geratewohl ausgestiegen, das Geschäft habe ich gefunden, mühelos, ohne mich auch nur im Ansatz zu verirren. Dort habe ich ein tailliertes Kleid in Dunkelorange gefunden, mit hellen blauen Steinchen an den Trägern. Ich probierte es nicht einmal an, ich wusste, es war für mich gemacht.
    Später aber habe ich zu Hause die Kleider nur angeschaut, die Stoffe mit den Fingerkuppen befühlt, als seien sie nicht nur für immer aus meiner Welt herausgefallen, sondern nie ein Teil davon gewesen, und als gehöre das Glück, Kleider zu tragen, doch nur den anderen Frauen und stehe mir letztlich nicht zu.
    Dabei hingen die schönsten Kleider in meinem Schrank und gehörten mir, ich hatte sie von meinem Geld gekauft und wie eine kleine Beute nach Hause getragen, als warte jemand in meiner Wohnung, dem ich sie vorführen könnte. Aber da war niemand. Worauf wartete ich also? Ich harrte aus, wollte die Kleider nicht nur für mich allein anziehen. Das Ausharren ist keine besondere Qualität, vielmehr ist es Schüchternheit, das stille Verbleiben im besonderen Schutz der Sehnsucht. Tatenlosigkeit. Deswegen war es mit den Jahren zu meiner Verherrlichung des Schweigens gekommen. Mit Ilja trat ich aus der Sehnsucht heraus, ich sprang förmlich in die Gefährlichkeit der Haut. Schon nach der ersten Nacht mit ihm kaufte ich mir eine meeresblaue Tasche. Tags darauf fand ich violettfarbene Sommerstiefel in einem Geschäft, das ich vorher nie betreten hatte, und dort kaufte ich auch ein ockergelbes Kleid. Beides zog ich sofort an. In die meeresblaue Tasche passte alles rein, mein liebster Lippenstift, mein Buch und Notizheft, Ersatzballerinas, wenn ich auf den Schuhen mit hohen Absätzen nicht mehr laufen mochte, ein Kosmetiktäschchen, mein Iris-Parfüm, sogar die Erinnerung fand in der meeresblauen Tasche einen Platz. Das Kleid liebte ich mehr als jede Hose, die ich bis dahin getragen hatte, kaufte mir einen breiten schwarzen bis dahin und fühlte mich vom einen auf den anderen Tag den Frauen auf den Straßen zugehörig und ebenbürtig. Ich fror nicht mehr so schnell, denn früher, da hatte ich auch im Sommer gezittert, obwohl es mir warm war. Zeitgleich zur Wärme fror immer etwas in mir, und manchmal glaubte ich, in meinen Sandalen oder Ballerinas auszurutschen, weil irgendeine beharrliche Kälte von meinen Fußsohlen her den Sommer aus mir herauszog, so, als sauge jemand mit festem Zahnwerk Schlangengift aus mir. Aber ich wurde dabei nicht gerettet, im Gegenteil, ich hatte eher das Gefühl, vom Sommer gefressen zu werden. Ich hatte Angst vor den Sommern, sie schienen es auf mich abgesehen zu haben. Vielleicht ist der Sommer allen Unglücklichen ein Vampir. Aber jetzt stürmten die Körper mit ihren Sprachen nur so auf mich ein, jetzt waren mir Schlangenbisse und alte Friergewohnheiten egal. Die Welt der Körper war nicht mehr aus meinem Blick wegzudenken. Alles schien aus Beinen, Wangen, Mündern, Hüften, Ohren und Füßen zu bestehen. Wo auch immer ich in diesem Sommer hinsah, alles war Nacktheit für mich, alles offenbarte, versteckte, bot sich mir an.

    Obwohl unser Kind schon zur Schule geht, kann ich ihm nicht allzu viel Konkretes über Ilja erzählen. Alles, woran ich mich erinnere, ist schon so lange her, dass ich anfange, an den Einzelheiten zu zweifeln. Manchmal glaube ich, Ilja habe das damals bedacht, habe gewusst, dass alles später einem Traum gleichen wird, als er umsichtig wie ein Spion alle Spuren verwischte, unsere Briefe und Bilder fortwarf und nichts mehr darauf hinwies, dass es uns einmal in einem Frühling gegeben hat, dass wir einander wie zwei Verrückte alle unsere Geheimnisse erzählt haben, ich Kleider anfing zu tragen, als seien sie gerade eben erst erfunden worden, und dass wir die Nächte durchgelacht, durchgeredet haben, so, als hätte anderntags die Welt untergehen können, wenn wir uns nichts erzählt hätten und einfach

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