Das Gedächtnis der Libellen
habe ich eines Tages abstreifen müssen, ich habe einsehen müssen, dass das, was ich mir von Worten und Menschen wünsche, die meisten mit mir nicht teilen und dass meine Wortgläubigkeit eines Tages ein schlimmes Ende nehmen wird, denn meine Wortgläubigkeit, das bin ich selbst. Ich verstand, dass ich mich in die Wörter zurückziehen musste, dort Schutz bekam, ein Obdach, aber nur, wenn ich nicht das Gleiche von den anderen verlangte. Sonst würde ich immer dem alten Lebensmuster zum Opfer fallen. Wer aber macht das Muster, das wir unser Leben nennen? Bin ich es, das Schweigen, oder sind es doch heimlich die anderen? Die, die draußen sind, außerhalb unserer Stille, alle Menschen, die wir kennen, die andere Namen tragen, anders aussehen als wir, andere Bücher lesen, und jene, die wir zeitgleich mit ihnen lesen, erzählen uns jeweils etwas anderes über uns und über die Welt.
Was also ist dieses Muster, das uns wie im Spinnennetz mit allen Dingen und Menschen verwebt und das sich manchmal auf meine Brillengläser legt, als wollte es mir die Welt im Blick vorerzählen?
13
Ich bin es, bin selbst das Muster, das ich mein Leben nenne, bedroht von Ordnung und Unordnung in gleichem Maße, wie jeder, der seine Haut als Weltrand begreift und die Erinnerung wie einen Acker bestellt, auf dem das Unkraut des eigenen Lebens und das der anderen, aller anderen wächst, die man je getroffen, geliebt, umarmt hat. Ich erschaffe mir das Muster jeden Tag neu, ich bin angestellt bei dem Muster, selbst die Liebe ist dann ein alter Trick, der mich zurück ins Netz bringen will, zurück zu dem Wunsch, mich mit den Schwalben, mit den Sternen und dem Himmel auf die gleiche Art und Weise wie mit den Menschen anfreunden zu können. Das wird mir niemals mehr gelingen. Schwalben, Himmel, Sterne sind zu weit weg, haben keine Wärme. Sie sind nur Versprechen. Schöne, verlockende Versprechen. Ich werde das Versprechen immer lieben, immer nach dieser Art Versprechen streben, ich kann nicht anders, so bin ich groß geworden. Aber ich bin fast erstickt an diesem unterkühlten Versprechen.
Ilja war ein Teil der Schwalben, des Himmels, der Sterne, Ilja, mein Ilja, war zu viel Himmel für mich. Ich bin zu schwach für den Himmel. Nur im Tod, stelle ich mir vor, kann ich ein Teil der Schwalben, des Himmels und der Sterne sein, aber hier auf der Erde nur ein Teil der Erde. Ilja hat mich auf die Erde zurückgeholt. Das kann nur der Himmel. Der Himmel wirft dich auf irgendeinen Acker und dann jätest du Unkraut und berührst die Erde mit deinen Fingern, du siehst, wie warm und feucht die Erde ist, wie dunkel und schön die Erde ist, dass da etwas aus ihr wächst, das kommt dir vor wie ein Gebet. Die Erde betet, wenn eine Pflanze entsteht, ein Baum, der Blüten treibt und Früchte schenkt, unter dem später ein Kind stehen wird, du selbst, elternlos, hungrig nach Haut und Berührung, liebend, aber allein, wissend, aber ohne Zeugen, zitternd, aber ohne richtige Haut, mit der es sich zurechtfinden und sehen könnte, wo der Baum steht, der Blüten treibt und Früchte schenkt. Das Kind wächst, in der Stadt sucht es noch immer die Erde, die Bäume, seine Blüten, seine Früchte. Und dann liebt es, hier und dort, lehnt sich an, hier und dort, aber nie bleibt einer bei diesem Menschen, nie wird dieser Mensch ein richtiges Mädchen, immer weint etwas in ihm, nicht einmal die Ferne küsst ihm die Träume. Kein Ilja weit und breit. Nur das Warten. Das Herumstehen im Hof, die Freude an den schimmernden Reben, das Paradies, im eigenen Garten. Das Entziffern der fremden Träume. Tante Filomena hatte viele Träume, ich las sie ihr von den Wangen ab. Keine Kleider. Nichts, das den Körper genauer gezeigt hätte, zog ich an. Meine Tante hingegen trug nur enge Röcke und schöne Blusen, sie schminkte sich die Lippen und besaß Rouge in drei verschiedenen Tönen.
Als ich Ilja traf, hörte ich auf, Hosen zu tragen. Seit der Kindheit hatte ich keine Röcke und Kleider mehr angezogen. Schuhe hatte ich vor allem schwarze, nur die roten Turnschuhe waren eine Ausnahme. In meinem Kleiderschrank hingen viele Kleider, bunte, helle, geblümte. Aber ich kaufte sie immer nur für den Kleiderschrank, nannte sie meine Kleiderschrankkleider, Kleiderschrankröcke . Ich hatte über fünfzig Stück. Aus allen Ländern, in denen ich war, hatte ich sie mitgebracht. In Paris wurde es anders. Ich bekam Lust, die Kleider auch anzuziehen, und kaufte mir immer wieder neue auf dem
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