Das Gedächtnis der Libellen
und schwimmend kämen wir an in einem anderen Leben, mit einer anderen, neuen Biographie könnten wir lieben, als sei nie jemand auf dieser Erde durch die Liebe verletzt oder von ihr geheilt worden, als sei sie neu, eine unerprobte, unerhörte Erfindung.
Am anderen Ufer wäre das Neue möglich; wie ein Frühling. Ich versuche, Ilja in so einen Fluss zu werfen, so einen Fluss in mir und meinen Gedanken zu errichten. Mitten in der Erinnerung lasse ich einen Fluss fließen und schmeiße alles Gute und Schlechte und Schöne und Zarte dort hinein. Aber der Fluss wehrt sich, und ich weiß, es ist nur ein erfundener Fluss, ich werde Ilja doch nie vergessen. Das ist meine sprichwörtliche Strafe. Ich werde bestraft mit Erinnerung, während Ilja vom Vergessen beschenkt wird. Aber dennoch glaube ich nicht, dass Ilja mich wirklich vergessen wird, dass er das je können wird, diese Art von Vergessen traue ich ihm nicht zu.
Jetzt sind wir gefangen in uns selbst, Ilja in sich und ich, Nadeshda, in mir. Und wir machen eine Reise, unabhängig voneinander. Jeder macht die Reise, die er machen muss. Ilja ist unterwegs, und seine Ehe ist ein sicheres Schiff für ihn, Schiff und Hafen, hatte er einmal verschmitzt gesagt, und ich dachte, das hat er doch jetzt nicht gesagt, Ilja ist Schriftsteller, er wird nicht Wörter wie Schiff und Hafen für seine Ehe benutzt haben. Aber gerade Schriftsteller sind schlimm anfällig für Klischees, eben weil die Klischees überraschenderweise manchmal nicht nur ein Bestandteil, sondern bei manchen Menschen das Leben an sich sind. Ich konnte mir einreden so lange ich wollte, dass er diese beiden Worte nicht gesagt hatte, aber er hatte sie gesagt. Und damit musste ich leben, ebenso mit der Tatsache, dass er es genau so und nicht anders meinte. In der Zwischenzeit habe ich das Wort Schiff sogar von Ilja übernommen. Mein neuer Name ist eine Art neues Schiff für mich. Jeden Morgen gehe ich die Treppen zum Schiff hinauf. Ich verliere mich nicht. Die Treppen sind sichtbar und fest. Draußen ist das Meer, meine Stadt, mein Leben. Ich bin froh, dass das Meer da ist, dass dieses Meer meine Stadt ist und ich in dieser Stadt mein Leben lebe. Aber möglicherweise ist das genau das Gleiche, das auch André Bretons Nadja in der Irrenanstalt erlebt hat, nur dass ich heute nicht eingesperrt bin und dennoch das Gefühl nicht loswerde, dass mir die Liebe zu Ilja die ganze Welt zu einer Falle hat werden lassen. Wie ein gefangenes Tier erkunde ich die Ecken und Enden dieser Welt, und überall, wo ich ein Ende, etwas zum Ausruhen vermute, ist plötzlich ein Zaun, der mir meine Begrenzung aufzeigt und mich wissen lässt, dass es anderswo doch eine Weite gibt, zu der ich nicht vordringe, solange ich an Ilja denke, an ihn und an seine Geschichte, an alles, was er mir erzählt hat über sich und woraus ich jetzt eine Welt erschaffe, nur um die Frühlingslücke in mir zu füllen, aus Angst, vor allem davor, dass die Lücke mich eines Tages aufessen könnte, mit allem, was ich war, bin und je sein werde. Wäre diese Art Vergessen gut?
Es ist mir vor Ilja nie passiert, dass ich jemanden geliebt und dabei mit dem Träumen aufgehört habe. Aber bei Ilja ist es mir passiert, und ich, die ich immer auf alle Barrikaden dieser Welt gehe, um das Träumen heilig zu halten, habe nicht einmal bemerkt, dass ich nicht mehr träume, weder von mir selbst noch von anderen Menschen. Vielleicht kann ich jetzt das einlösen, was ich von den anderen so gerne fordere: dass das Träumen eine Präzision verlangt, eine Klarheit und einen Hunger, genauso wie das Leben. Ilja und ich, es ist ein Kummerplural aus allem entstanden. Selbst Rosinenbrötchen schmeckten mir nicht mehr, und im letzten Sommer habe ich nicht einmal Eis gegessen. Dabei lebe ich in den Sommern nur vom Eisessen und bin deshalb auch nie nur ein bisschen dicker geworden.
12
Und was ist mit den anderen? Was stellen die anderen sich vor? Auf welche Art sie wohl frühstücken, mit der Lüge im Bauch, die sich immer vor den Hunger schiebt, und was schmeckt dem Hunger am besten, mit was kann man ihn stillen, das frage ich mich auch. Im Kino, auf der Straße, beim Reden mit Freunden, da denkt sich mit einem Mal ein Gedanke in mir selbst zu Ende. Ich habe keinen Stift dabei, um alles zu notieren, was der sich selbst denkende Gedanke mir sagt.
Zu Hause denke ich über den Wortlaut nach und natürlich fällt er mir nicht so ein, wie er von selbst in mich gekommen ist. Dann versuche ich
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