Das Gedächtnis der Libellen
Gedächtnis als zitternde Schönheit ein. Sie wurden für mich das Hauptereignis des Sommers, ihre Lebendigkeit hatte etwas Tröstliches an sich. Aber Vater hasste die Zigeuner, alles, was lebendig war und sich bewegte, erweckte seinen Argwohn. Er und die Angst sind seit Urzeiten zu einer Einheit verschmolzen, so, wie der Sommer mit dem Augustlicht verschmelzen kann, so sehr war mein Vater der Drohende, der mir erzählte, die reisenden Zigeuner würden die Füße ihrer Kinder zur Vorspeise essen und ihre Fußzehen zur Hauptspeise ausspucken, weil das eine Zauberformel von ihnen forderte.
Vater kannte solche Geschichten, es waren Geschichten, die einem mitten im Leben, bei Musik, am wärmenden Feuer und beim Tanz das Gedächtnis kaputtschlugen wie seine schwieligen Hände Walnüsse kaputtschlugen, eine Art Sport am Morgen war das für ihn. Ich hatte immer das Gefühl, die Walnüsse seien so etwas wie Köpfe in seiner Vorstellung. Beim ersten Versuch zertrümmerte er sie immer. Aber er hätte nie zugegeben, dass er das tat, dass er sich so etwas vorstellte. Er schob alles Böse auf die Zigeuner. Er behauptete, sie besäßen magische Geräte, mit denen sie die Erinnerung aus den Menschen herausdrücken könnten. Wie einen Saft nehmen sie dir deine Vergangenheit weg, sagte er, wenn er viel getrunken hatte. Mit denen darfst du nie reden, fügte er hinzu, mitgehen auch nicht, verstehst du. Ich verstand nichts, nickte aber wie alle Kinder nicken, die merken, dass nur das Nicken den anderen von irgendetwas Schrecklichem abhalten kann.
Angeblich versteckten die Zigeuner auf ihren Kutschen, unter dem Stroh, jede Menge Folterwerkzeuge, mit denen man einem ganzen Volk die Augen herausschrauben konnte. Jedes einzelne Auge und jeden einzelnen Zahn schrauben sie den Kindern raus, sagte mein Vater, wenn er merkte, dass ich ihm nicht mehr glauben wollte, und sagte dann noch, auch die Fußnägel könnten sie mit ihren Zaubergeräten einfach so ablösen und spätestens dann sei die eigene Erinnerung in Gefahr, denn dann steige sie freiwillig in die großen Töpfe dieser Wilden, wo diese angeblich spuckend die Fußzehen entsorgten, und dann würde einer der Chefs immer ein großes Feuer legen, ein richtiges großes Feuer. Das Holz sei natürlich von unserem Hof über Nacht gestohlen worden. In der Manier eines Besessenen sagte Vater, die stehlen alles, Holz, Kinder, Gedanken.
Es schien, als sei seine von Grausamkeit durchtränkte Fabulierkunst zu einer Art Nahrung für ihn geworden. Die Kleinsten, sagte er, während ihm Speichel aus den Mundwinkeln das Kinn herunterrann, die Kleinsten müssen dann geopfert werden, die werden gekocht, verstehst du? Wenn mein Gesicht noch immer keine Regung zeigte, dann sagte Vater, es sei besser, auf seine Eltern zu hören, überhaupt Eltern zu haben, denn wer sei schon gerne die Hauptspeise der Zigeuner, wenn draußen, im richtigen Leben, der Sommer auf den Häusern ruhe, die Schwalben umherflögen, die frische Milch so gut schmecke wie noch in keinem Sommer davor.
Schwieg ich noch immer reglos, verordnete Vater mir Sätze. Ich sollte dann alles wiederholen, was er sagte. Und ich sollte mir alle Sätze merken, das sind Vatersätze, sagte er, verstehst du das? Er ließ mich die Sätze so lange und so oft nachsprechen, bis er glaubte, dass ich ihn verstanden hätte. Aber ich wiederholte seine Sätze nur, ich glaubte nicht an sie. Er merkte es irgendwann an der Art, wie ich sie betonte, das machte ihn unzufrieden. Dann erfand er neue Sätze, viel schlimmere Sätze kamen dazu. Für dich muss ich mir eine Lernmethode ausdenken, sagte er.
14
Neben dem Erbe meines Vaters ist da auch noch der letzte europäische Krieg, der mein Leben und das Leben aller, die ich gekannt habe, verändert hat, ein Krieg, der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal in Rohform etwas über das zwanzigste Jahrhundert erzählt hat. Der Balkan ist der Brennofen Europas, sein unbewusstes Feuer, seine alte Scham. Mit der Geburt meines Großvaters, der nach Chicago ausgewandert ist, habe ich genauso viel zu tun wie mit der Tatsache, dass der Faschismus auch vor meinem Dalmatien nicht haltgemacht hat, nein, allen meinen Wünschen zum Trotz, die Geschichte rückwärtig zu betreten und zu verändern: Es hat den Faschismus auch dort gegeben, wo ich das Licht der Welt erblickt habe.
Aber das ist nicht alles, ich bin mehr als das, ich bin verwoben mit der dalmatinischen Stadt Split und mit der bosnischen Stadt Sarajevo, ich
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