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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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zurückkehrte; es weckte mich ein bisschen, es fühlte sich an, als hätte ich mein Leben lang geschlafen und als sei dieses Zehenzittern der Anfang meiner eigentlichen Geburt. Das Gesicht der Tante zitterte im Gleichmaß mit mir, ihre Wangen zuckten so, wie ich das noch nie bei einem Menschen gesehen habe. Auch der Baum schien zu zittern, alles zitterte um mich herum, die Grashalme, der Tisch, die Stühle, in alles hatte sich ein leichtes Beben geschlichen. Als ich kurz aufstand, ich tat es, um nicht bloß so herumzusitzen und dem Zittern ausgeliefert zu sein, merkte ich, wie der Schwindel sich in alle meine Glieder gelegt hatte, wie eine Schlange saß er in mir fest und biss dann zu, immer, auch noch Jahre danach, wenn ich vor der Erinnerung und vor allen Erkenntnissen, die sie in sich barg, wegrennen wollte. Als ich wieder zu mir kam, sagte Tante, es helfe alles nichts. Sie brühte für uns einen starken türkischen Kaffee, brachte getrocknete Feigen und Limonade aus der Küche und setzte sich rauchend auf den alten Holzstuhl. Ich dachte an Arjeta, war froh, dass es sie gab, dass sie in Berlin auf mich wartete und ich immer zu ihr hingehen konnte.

    Noch bevor meine Tante mir alles über Vater erzählte, blitzten die Bilder in mir auf, Vater, dieser Dickbauchvater, auf unserem Hof, mit einer Axt in der Hand, wie er meine roten Schühchen auf dem Mandelbaumstumpf zerhackt. Vater, mit einem bunten Mädchenkleid in der einen, ein Feuerzeug in der anderen Hand und dann dieser Geruch des brennenden Kleides, wie er sich in mich jenseits der Zeit eingebrannt hat, dieser Geruch und die Angst, sie sind eins, genauso wie das Geräusch des Versengens, ausgelöst durch das Brennen des Kleides; für immer ist das Geräusch in meinen Ohren abgespeichert. Erinnerungshören ist das. Tief unten in meinem Gedächtnis brennt das Kleid noch immer. Ich sehe es vor mir, sehe und rieche, wie es von den Flammen verschlungen wird, wie es sich nicht wehren kann, weil es nur aus Stoff ist, aber ein Zischen ihm doch hin und wieder an den Stellen entfährt, an denen die Falten sitzen, dort krächzt das schöne Mädchenkleid, so laut, dass ich es am Tor noch hören kann, so laut, als weine der stimmlose Stoff, der bunte, geblümte Stoff, den ich so sehr geliebt habe, mehr sogar als die Wiesen und die Blumen auf unserem Veilchenfeld.

15
    Mit dem Bus fuhr ich noch einmal in mein Dorf, ging zum Haus, in dem wir einst alle gelebt hatten, sah den Stall, das Gras, die Bäume und erinnerte mich an das Pferd, daran, wie oft ich, meist abends, vor dem Zubettgehen, seinen schönen weichen Kopf küsste, den es mir wie eine Gabe hinhielt. Alles war noch da, von der Sonne ausgeblichen, von Blumen, wilden Beeren und Unkraut überwuchert zwar, aber alles stand an alter Stelle, die Fensterläden, das blass gewordene hellgrüne Holztor, das verrostete Gitter vor dem Hühnerstall, in dem jetzt eine in alle Himmelsrichtungen ausufernde Wildrose zu sehen war, die kleinen Holzhocker, die mein Urgroßvater aus Italien mitgebracht hatte. Die Bäume blühten so prächtig, wie ich es nur in der frühen Kindheit gesehen hatte, auch die Vögel sangen, viele verschiedene waren auf dem Hof und zirpten von den Wipfeln ihre Lieder in die offene Luft. Laut und so deutlich wie niemals vorher und niemals danach zeigte mir ihr Gesang die Abwesenheit der Menschen und ihrer Gedächtnisse an.
    Die Natur kümmerte sich um keine Erinnerung, die Pflanzen wuchsen einfach, ein Quittenbaum war aus dem Nichts herausgeschossen und versperrte nun die Eingangstür, durch die ich so oft barfuß gegangen war, in den lang gezogenen Sommern, unter dem beschützenden Licht des Augusts, immer die Schwelle im Auge, als ginge ich jedes Mal über einen Abgrund, den sie in Wirklichkeit markierte, aber, so dachte ich es damals, nur ich sah diese Schlucht, die in meiner Vorstellung die Welt verschlucken würde, wenn ich nicht achtsam ginge und ihr damit meine Ehrerbietung zeigte.
    Jetzt hatte der Quittenbaum die Schwelle erobert, wuchs dort, als hätte nie ein Mensch seinen Fuß drübergesetzt, als hätte es nie eine andere Form von Leben hier gegeben, keiner auf dem Hof je gelacht, als wäre kein Schmetterling um die Füße eines im Gras schlafenden Menschen geflogen. Die Bäume, das Gras, die Blüten, die wilden Beeren wuchsen in Ritzen und aus Steintreppen, verwiesen jedes Gedächtnis in eine Art Lebenswinter zurück, als hätte es nie etwas anderes als dieses zielgerichtete Streben der Natur nach

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