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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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habe diese verdammten Wurzeln von meinen Großvätern und Großmüttern, sie haben den ewigen Plural in mich eingesetzt, sie haben mich mit dem Plural eingesalzen und jetzt kann ich gucken, wie ich das alles in mir ordne. Meine Großeltern sind nach Amerika ausgewandert, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber bevor sie gegangen sind, ist etwas Entscheidendes geschehen. Mein Vater ist der Mörder vieler Libellen geworden, so jedenfalls wurde immer wieder mal bildhaft darüber gesprochen. Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Ich konnte mir niemals vorstellen, dass man so etwas Schönes wie Libellen töten konnte, dass sie sich überhaupt fangen ließen oder auch nur ansatzweise sterblich waren. Libellen, das war das Gegenteil von Mord für mich. Die Leute sprachen es immer öfter aus, dein Vater ist ein Libellenmörder, das sagten sie mir. Warum, das habe ich in jenem Sommer herausgefunden, in dem Ilja unser Treffen in Split abgesagt und damit unsere Liebe zugunsten seiner Ehe, in der er sich einen happily married man nannte, geopfert hatte.

    Meine Tante Filomena hat es mir in jenem Sommer erzählt. Ich hatte noch das Flugticket, das mich zu Ilja und unserem kleinen Apartment in Split hätte bringen sollen. Der Sommer war heiß und trocken und unter dem Feigenbaum schlich Tante Filomena ein paar Tage um mich herum, bevor sie mit der Sprache herausrückte.
    Sie sagte, ich muss dir alles erzählen, und mir fiel fast der türkische Kaffee aus der Hand. Ich wusste nicht, was alles für sie war, aber die Art, wie sie mich ansah und wie sie sich am Kopf, an jener alten wunden Stelle kratzte, machte mir Angst.
    Ich kannte diese Angst, es war die alte Angst, jene, die sich in mir abgespeichert hatte und die von Vaters verordneten Sätzen herrührte. Es hatte mit dem Gesichtsausdruck meiner Tante zu tun. Es war der alte Ausdruck. Er verband mich automatisch mit der Vergangenheit. Dann sagte sie mir alles. Und ich wusste nicht, wie ich nach diesem Sommer weiterleben konnte. Vater hat die Axt nicht nur für die Kinderschuhe benutzt. Vater hat einfach alles mit der Axt zerhackt. Mein Vater war ein bekannter Kindermörder, vor dem sich alle in den umliegenden Dörfern und Weilern gefürchtet hatten. Ich fühlte meinen Körper nicht mehr. Es war, als hätte ich keine Füße, keine Beine, keine Arme mehr. Sie waren wie abgeschnitten. Jetzt verstand ich Vaters Erzählungen von den bösen Zigeunern besser als früher. Jetzt verstand ich sie zum ersten Mal und konnte mir auch meinen eigenen Angstschweiß erklären. Es war schneekalter Angstschweiß, der mich noch heute überrascht, wenn ich an die schwieligen Hände und gierigen Augen jenes Mannes denke, dem ich das Leben verdanke und der mich damals im Keller an den alten Holztisch auf eine Art geschoben hatte, dass mir für Jahre danach noch immer vor ihm graute.

    Vielleicht war ich deshalb nicht traurig, als meine Eltern nach Amerika geflohen waren. Mutter hatte ihn also immer gedeckt. Ich hatte nichts davon gewusst, mich aber immer gewundert, dass ich nicht einmal über ihre Flucht geweint hatte. Singend, sagte die Tante, er hat die Libellen singend getötet, schon als Kind, so, wie er später die Mädchen getötet hat, singend ist er vorgegangen, wie bei den Libellen. Er war geschickt, sagte Tante, er war verdammt geschickt, keiner konnte so viele Libellen fangen wie er.
    Dann hat er sich dieses Album angeschafft, und das ganze Dorf hat ihm beim Sammeln zugesehen, allenthalben hat man ihn gebeten, die Libellen zu zeigen, vorzuzeigen, seine Schätze auszustellen. Im Wirtshaus beugten sie sich über das Album, sogar das Billardspiel wurde unterbrochen, damit die Libellen ins Visier genommen werden konnten. Das ist nicht wahr, sagte ich, die haben nie mit dem Billardspielen aufgehört, für nichts, sagte ich. Oh doch, für die toten Libellen haben sie aufgehört, für ihre schönen Flügel schon, sagte meine Tante.

    Es schien, als sei die Erinnerung an das große Damals in meine Tante Filomena eingeflossen wie in einen Bernstein, der Wort für Wort weicher und lebendiger wurde und dem immer mehr Bilder entstiegen, immer tiefere Schichten öffneten sich im Bernstein, so dass ich für Augenblicke dachte, der Bernstein, dieses Ungeheuer an Gedächtnis, wird mich fressen, ich in ihm verschwinden, Teil seiner allmächtigen Farbe werden, wackelig auf den Beinen, obwohl ich auf meinem Holzhocker saß. Das Zittern rührte von den Zehen her, in die langsam wieder Leben

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