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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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nicht teilen. Am Ende aller Straßen und Städte steht man allein. Aber es ist schön, den Weg mit anderen gemeinsam zu gehen und zu wissen, dass es Menschen gibt, die deinen Körper achten, die ihn wecken können, die ihn nicht töten, die ihn lieben, um seiner selbst willen, auch wenn sie dich später verlassen. Auch dann, wenn sie trotz ihrer Anwesenheit nie bei dir gewesen sind. Ilja ist nicht geblieben, und doch hat gerade er meiner Haut ihren ersten Namen und ihre erste Bedeutung wiedergeschenkt.

16
    Als hätte er irgendein schlafendes Tier in meinem Körper geweckt, eine Art Urform der Leidenschaft, blieb ich auch nach Iljas Fortgehen wach wie für alle Zeiten. Sah so ein wach geküsstes Schneewittchen aus? Und wollte mein Vater mich nicht erst Snježana nennen? Die, die vom Schnee kommt, so übersetzte ich mir immer diesen erstsprachlichen Namen. Aber was tat denn ein Schneewittchen, das wieder einen Körper hatte und keinen Ilja weit und breit?
    Es schien, als hätten sich alle Flüssigkeiten freie Bahn in mir gebrochen, überall roch ich die Lust und das Rufen der Männersamen und ihren Schweiß roch ich auch. Sogar im Bus, wo so viele Körper, Hunderte, Tausende an einem Tag einander ablösten, irrte ich mit meinem Geruchssinn den Verschwundenen hinterher und konnte unzählige Drüsen und Achseln voneinander unterscheiden und jeweils sehen, was sie mit mir machten, welche Ideen von Abscheu und Hingabe sie in mir beschworen. Die Stadt wurde ein Labyrinth aus schwüler, traumverloren taumelnder Lust, überall Leiber, Beine und Männerhände. Jetzt erst sah ich sie. Und auch die Frauen gefielen mir sehr. Nie zuvor mochte ich die Pfiffe der Spaziergeher, aber jetzt schienen sogar meine neu für meinen Körper eroberten Kleider sich selbst ausziehen zu wollen. Ich wartete, ich wollte nur mit Ilja zusammen sein, und in meiner Unerfahrenheit blieb ich ihm treu bis zu seinem letzten Brief, jetzt, entschied ich, würde ich alle meine Lust in Vergessen umtaufen. Kein Ilja, kein Körperrufen, so dachte ich, die entfachte Feuersprache meiner Zellen, Zehen und Schenkel würde einfach eines Tages wieder aufhören und ich ins körperlose, langweilige Leben vor meiner Begegnung mit ihm zurücksinken, wieder schlafen, wieder Schneewittchen im Körpergrab werden, das auf der Wiese, selbst im Sommer, seine Füße versteckt und keine kurzen Kleider auf dem Fahrrad anzieht, überhaupt keine Kleider, denn Kleider und Angst waren das Gleiche.

    Aber jetzt, kein Rock konnte mir kurz genug, kein Wind stark genug sein, wenn ich an Ilja dachte, und ich dachte immer an ihn, auf dem Fahrrad, im Park, beim Frühstück, überall, auch in der deutschen Provinz, im Kino ohnehin.
    Ich konnte den Körper aber nicht mehr dem Schneewittchen geben. Er wollte nicht. Es war, als gäbe es von dieser Körpertaufe, die Ilja und sein Körper vollzogen, von den Salven seines Lachens, von seinen suchenden, warmen Händen, die fein und fröhlich meinen Körper nach einem mir bis dahin unbekannten Alphabet abtasteten, eine zeitgleiche Einweihung in Schuld und Unschuld. Es gab keinen Weg zurück. Als ich das begriff, spürte ich, wie die Liebe einen Augenblick lang in mir zurückwich, wie ich versuchte, sie zu halten. Dann sah ich, dass sie niemals gehen, niemals ganz verschwinden würde.

    Vielleicht ahnte meine Tante, dass ich in diesem Frühling etwas von Ilja zurückbekam, was mir mein Vater in der Kindheit stahl, aber warum sie mir ausgerechnet in diesem Sommer das ganze Geheimnis erzählte, werde ich nie erfahren, nie wissen, was sie dazu getrieben hatte und warum es ausgerechnet jener Sommer war, in dem ich Ilja endgültig verlor, meine Lust aber für immer gewann und damit auch meinen Körper zurückerhielt, den ich gehasst hatte wie einen bösen Feind. Es kam mir vor, als sei meine Tante Filomena seismographisch einer inneren Mathematik gefolgt, die sich immer unsichtbar in uns versteckt gehalten hatte.
    Noch Jahre danach konnte ich mich an den Augenblick erinnern, als sie alles erzählt hatte und in dem das Gesicht meines Vaters und das Gesicht meines Ilja, dort, unter dem Feigenbaum, ohne dass ich das Bild hätte steuern oder verscheuchen können, miteinander verschmolzen, so, als habe etwas aus der Luft, die Luft selbst sie miteinander verbunden. Und Ezra war meine Gegenwart. Das Kind wuchs und mit ihm blieb die fortwährende Gegenwart. Es half kein Vergessen, das Vergessen schien es nie in der Welt gegeben zu haben. Der eine war mein Vater,

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