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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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zugrunde gegangen. Fußnoten sind wichtig. Sie vervollständigen die Wirklichkeit.
    Manchmal, wenn ich bei Sonnenaufgang aufstehe und alles still ist wie kurz vor dem Tod eines Menschen, dann glaube ich, dass diese Stille dieselbe Kraft in sich trägt, die auch die Vögel auf Reisen schickt, von Sommer zu Sommer und dazwischen: der Gesang der Rocky Mountains, der Alpen und all der anderen Gebirge, die wir als Menschen immer nur mit den Augen sehen, aber nie mit den Ohren hören, und wer weiß, sage ich mir selbst, und manchmal, wenn ich Ilja in meinen Träumen treffe, dann sage ich es auch zu ihm, ich sage, vielleicht ist die Wirklichkeit derart raffiniert mehrdimensional, dass ich sie zunächst nur sehen soll, und in der Zwischenzeit baut sie weiter an sich selbst, wirft ihre Schatten wie Kleider ab, hinter meinem Rücken, ohne mein Wissen gründet sie neue Städte, Zivilisationen, erschafft neues Leben und zählt die Kristalle dazu, obwohl sie nicht von innen nach außen wachsen, sondern sich vielmehr durch immer neue Ablagerungen vermehren.
    Und so vermehrt auch sie sich, diese Frau, die wir Wirklichkeit nennen, von innen nach außen stülpt sie uns um und eines Tages wird sie uns einfach zum Teil ihrer Schöpfungen machen und wir werden ihre Leute sein, ihre Zuarbeiter, ohne es zu merken, wie die Figuren in einem Roman, die unschuldig und formlos die Welt der Schreibenden betreten und dann andere werden müssen, weil es keine Unschuld als Naturzustand gibt, nur den Weg des Bewusstseins, den Weg zu ihr zurück. Dazwischen: die Schreie und Wünsche meines Kindes, dem ich alles geben möchte, eine Gegenwart, eine Zukunft, Spielsachen und Küsse, Gutenachtgeschichten – und doch bin ich der Mensch, der ihm auch Dinge wegnimmt. Wenn ich allein bin und wenn Ezra schläft, sehe ich sie wieder vor mir, die vorbeigezogenen Möglichkeiten in meinem Leben, Stationen und Ufer, Städte und Flüsse, das ganze große Kräftemessen zwischen Gut und Böse, zusammen mit der Erkenntnis, dass man weder das eine noch das andere und nie beides zeitgleich ist.

18
    Mein Vater saß wie ein Schauspieler, schön und scheinbar unschuldig, unter dem alten Maulbeerbaum, einem meiner Lieblingsbäume, stundenlang. Es war jener, der die süßesten weißen Früchte trug. Die weißen Früchte sind der Zipfel Paradies, der uns noch übrig geblieben ist, sagte der Pfarrer, wenn er zu Ostern und in der Adventszeit auf unseren Hof kam und alle Räume, Dinge, Blumen und, wie mir schien, auch die Gedanken segnete. Ich wehrte mich damals gegen diese Idee der Segnung, aber nicht wegen der Räume, Dinge und Blumen, es war wegen der Gedanken. Es ärgerte mich, denn ich stellte mir vor, dass meine Gedanken sich dann nur entlang des Pfarrersegens entwickeln konnten, mir nicht mehr gehörten, nur der Kirche zuarbeiteten, dem, was sie und der Chef in Rom von mir erwarteten.
    Ich mochte den Pfarrer deshalb nicht, schon gar nicht, wenn er mich manchmal so allwissend anschaute und Sätze sagte, wie, na, was ist denn da drin in deinem Köpfchen, wieder so viele Purzelgedanken? Nein, sagte ich, das sind keine Purzelgedanken.
    Seine Neugier beleidigte mich, aber anmaßend wie er war, ignorierte er jedes Mal meinen Ärger und tat so, als freute ich mich über seine Aufmerksamkeit. Was ich habe, das sind handfeste Wünsche, sagte ich trotzig. Und er fragte dann mit einer eklig süßen Stimme, was denn das für Wünsche seien. Schokolade, schoss es aus mir heraus, in allen Farben und aus aller Herren Länder. Draußen flogen die Libellen. Ihr Tod war noch ein Fremdwort für mich. Aber der Tod der Libellen war echt. Sie wurden das Bild für die Schuld meines Vaters. Vater saß vor allem sommers unter dem Maulbeerbaum wie in einer Filmszene, und man hätte denken können, dass er das Herz eines Engels, mindestens das einer wunderweichen Katze hat, wie er da saß mit seinem geflochtenen Hut und dem schönen hellen Hemd, auf dem die Schmetterlinge landeten, als sei die Brust meines Vaters eigentlich eine betörende Sommerwiese. Aber so denken wir Menschen eben, wir denken, dass Engel und Katzen reine Herzen haben, und dabei wissen wir gar nichts über Engel und Katzen, vielleicht sind ihre Herzen gar nicht vergleichbar mit den unseren, vielleicht können sie gar nichts fühlen und erinnern sich deshalb auch an nichts.
    Es ist leicht, ein reines Herz zu bewahren, wenn man nichts mit diesem Herzen fühlt und wenn dieses Herz nicht an das Gedächtnis gekoppelt ist. Ich

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