Das Gedächtnis der Libellen
Zimmer, wenn er längst zum Flughafen gefahren sein würde, zu diesem anderen Universum von Leben, an dem er mich niemals würde teilhaben lassen, nein, so weit reichte Iljas Liebe nicht.
Ich würde Ilja mit der Zeitlupe inspizieren, wenn er mich ließe, würde Ilja Fragen stellen, wissen wollen, ob er sich noch ab und an die Möglichkeit des anderen Lebens durch den Kopf gehen lässt oder ob die Möglichkeit sich von allein in seinem Kopf einstellt. Aber Ilja spricht nicht mehr. Er erzählt weder Wahrheiten noch Lügen, er ist einfach nicht mehr da. Ilja kann vergessen.
Vielleicht ist das seine Art von Stärke, etwas, um das ich Ilja beneide. Ich bin, überraschend für mich selbst, im Innersten ein Ahasver, ich suche immer nach dem neuen, dem anderen Leben. Kann sein, dass ich zu viele verlorene Hunde gesehen habe, einäugige, frierende, die, angebunden an ihre Hütten, nur auf diesen einen Platz festgelegt waren und nur vor und in der Hütte, manchmal auch neben ihr, die Jahreszeiten vorbeigehen sahen, ohne je ein Teil der Weite gewesen zu sein. Ich will kein solcher Hund werden und bin mehr aus Angst als durch den Antrieb zur Freiheit von der fixen Idee durchdrungen, dass jeder Schritt mein Leben verändern kann und an der einen oder anderen Straßenkreuzung der eine oder andere Engel, verkleidet als Kellner, Bettler und Dieb darauf wartet, seinen und meinen Lebensplan in eine andere Richtung zu bringen. Wie immer kann ich mir also viel vorstellen und will einmal mehr den Engeln dieser Welt die Hand reichen, und dann bin ich damit sehr allein, weil niemand mehr an Engel glaubt und alle sich nur als schlichte Menschen sehen, mit Unglück bepackt, mit schweren Koffern, mit Vergangenheiten, mit Gewichten aus diesen vielen Lebenszeiten, Kreisen, Kreiden und Kindheiten. Eine Jugend, die gab es für alle gratis, die kam von alleine, ließ nicht mit sich reden. Aber keineswegs denke ich an Flügel, wenn ich Engel sage, ich denke an die Straßentrottoirs überall in der Welt, in São Paulo, Belgrad, Berlin, Zagreb, New York, Paris, Amsterdam, Chicago und Florenz, an Nächte und einsame Menschen, die einen satten Magen und ein leeres Herz haben, an solche, denen weder das Gute noch das Böse nahe kommt, die einfach nur schlafen, und nicht einmal ein Kuss kann sie wecken oder ein Lächeln, denn ein Lächeln ist auch ein Engel. Man zupft nur an den Buchstaben etwas herum, und aus dem letzten Buchstaben lässt sich ein neues Wort machen, selbst dann, wenn es eng und dunkel und schmutzig ist. Liebe ist so ein Wort, Leben zum Beispiel, Lachen, Leidenschaft und auch Lust.
Ilja wird nie erfahren, dass er ein solcher Engel, mit einer solchen Enge für mich gewesen ist, jemand, der Fenster nicht nur in allen Hotels und Häusern, in denen wir waren, geöffnet hat, auch in mir hat es diese Fenster gegeben. Ilja hat sie gesehen, er hat alle meine kranken Gedanken weggeküsst, er hat Sätze gesagt, die niemand sonst gesagt hat, ohne zu wissen, was er in mir auslöst. Ihm war wohl klar, dass ich ein Mensch bin, der so einsam gewesen ist, dass er sich mit Wellen, Winden und Wundern angefreundet hat, der, um zu überleben, an die Kraft und Sprache der Wolken geglaubt hat und daran, dass Farben Biographien haben und der Himmel ein Haus ist, in dem wir alle Platz haben. So viel Platz hat der Himmel in sich wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern bitteren Kummer hatte. Der Himmel war leer für sie. Der Himmel ist immer leer. So wie alles für sie leer war, weil sie einen Vater hatte, dem es recht war, dass sie starb, draußen, in einer kalten Kopenhagener Silvesternacht. Zu sterben, das erschien ihr als der tröstende Himmel, verlockender, wärmer, als dem Vater zu erzählen, dass sie es nicht geschafft hatte, die Schwefelhölzer zu verkaufen und ihm den erwarteten Gewinn nach Hause zu bringen, wo er schon auf ihr Versagen und nicht etwa auf ihre Rückkehr wartete.
Einmal, unter dem Fenster des Amsterdamer Hotels, an der Nieuwe Prinsengracht, da hat Ilja mitten in der Nacht lachend zu mir hinaufgeschrien, ich bin da, mach auf, want to kiss your tears dry with my head high . Erst ein paar Monate später habe ich kapiert, dass das aus einem Lied von Amy Winehouse stammte, aber natürlich hat Ilja damals unter dem Balkon nicht dazu gesagt, das ist etwas aus einem Lied von Amy Winehouse. So korrekt war Ilja nie, er hatte kein Bedürfnis nach Fußnoten, und ich habe Ilja gerade deshalb geliebt. Und ich bin beinahe deshalb an Ilja
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