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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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am Eingangstor zu einem Kinderspielplatz angebracht, und das ließ mich schmunzeln. Gab es hier nur bissige Hunde? »No father allowed«, dachte ich, denn einen richtigen Vater, den hatte ich nie gehabt, nur einen bissigen. Ich musste aufhören, nach jemandem zu suchen, der nie ein Teil meines Lebens gewesen war und den ich offensichtlich mit einem gefährlichen Hund gleichgesetzt hatte, ohne es zu merken, so, wie man einen Sonnenbrand bekommt und erst später merkt, dass man unvorsichtig gewesen ist, weil man der Sonne nur Gutes zugetraut hat.

    Wie kann man etwas finden, das man nie hatte? Wenn man es nie hatte, dann ist es auch nie verloren gegangen. Dieser Gedanke illustrierte mir die Vergeblichkeit meiner alten, reflexartigen Suche, die gleichsam von allein zu dieser automatischen Suche geworden war, die Suche suchte in mir, und ich hatte es in all den Jahren nicht bemerkt, weil ich glaubte, frei von der Vergangenheit zu sein, ein Singular, an den die verflossene Zeit niemals heranreichen würde.

    Die Zeit vergeht im Inneren auf eine andere Art als im Außen, wenn es sie dort überhaupt gibt. Vielleicht bin ich am Ende doch nur deshalb Physikerin gewesen, um zu begreifen, wie Raum und Zeit in einem Menschenleben das Gleiche anstellen können wie draußen im großen Universum, und dass jede Seele eine Achillesferse hat, dass so eine Ferse zu einem Menschenleben immer dazugehört und es erst zu einem macht. Ich wollte nicht mehr suchen und versprach es mir selbst bei einem Cappuccino im Museum of Contemporary Art, wo ich mich aufwärmte und lange reglos und dankbar auf den Lake Michigan hinaussah. Es war Anfang Dezember, der Wind in Chicago pfiff durch die Straßen und bohrte sich in meinen Ohren fest, wie sich damals die dalmatinische Bora in meinen Ohren festgebissen hatte, ein Wind, der voller Botschaften war, wie alles, was aus der Kindheit stammt.

    Der Sommer, in dem Tante Filomena mir von meinem Vater erzählte, ging vorbei wie sonst auch alle Sommer vorbeigegangen waren. Leise klangen die letzten warmen Tage aus. Die Möwen wurden wie immer nicht stiller, die Haare trockneten nicht mehr so schnell an der Luft. Ich begriff, dass ich nie wieder nach Dalmatien gehen konnte, dass ich das Dorf, die Stadt, auch meine Tante der Vergangenheit überlassen musste, weil es keinen anderen Weg für mich gab, in der Gegenwart, die mein Leben war, anzukommen. Ich hatte Eltern, die irgendwo in Amerika lebten, aber sie waren längst tot für mich, mein Vater hatte Kinder gequält und erstochen, mit einer Axt hatte er ihre Füße abgehackt, es waren Kinder, die damals in meinem Alter waren. Niemand, der andere Kinder tötet, kann je wieder Vater eines Kindes sein. Denn alle Kinder sind ein Kind und ein Kind ist zeitgleich alle Kinder. Es ist mit nichts vergleichbar, dieses merkwürdige Gefühl von Verstoßenheit, dieses alte Waisenkindgefühl, das mich wieder und wieder auf allen Brücken dieser Welt überfällt und das mir sagt, du bist du, musst schauen, wie man lebt ohne eine beschützende Hand. Wurzellos, wie damals ohne Kleid, das mein Vater verbrannt hatte, stand ich zum Abschied im Hof, auf dem wir alle miteinander gelebt hatten und Mutter meine Zöpfe an Heiligabend und an den anderen Feiertagen flocht, bevor wir gemeinsam zur Mitternachtsmesse gingen. Wie immer hatte ich mir zu Weihnachten Geschwister gewünscht. Alle anderen Kinder im Dorf und später auch bei meiner Tante in der Stadt hatten Schwestern und Brüder, nur ich nicht. Aber wovon verabschiedet sich der Mensch eigentlich, wenn der Ort, an dem er gelebt hat, nicht mehr von Menschen bewohnt wird, ein Ort, an dem man ihm nie die Wünsche erfüllt hat, von denen er geglaubt hat, sie würden sein Leben ins Gute wenden? Und kann ein Ort weiterhin ein Ort bleiben, wenn ihn keine Menschen bewohnen? Ein Ort braucht Menschen, um der Willkür der Natur zu entkommen und im gemeinsamen Gedächtnis, im Erbe der gemeinsam gelebten Liebe in ihre Gnade einzutreten.

    Als meine Eltern verschwunden waren, stellte ich mir vor, dass Geschwister, ein Brüderchen, zwei Schwesterchen, doch etwas an meinem Leben geändert hätten, dass es ein schöneres, wertvolleres Leben geworden wäre, dass es weniger Trauer gegeben hätte, wenn ich mit ihnen mein Leben geteilt hätte, auch den Schmerz, auch den Verlust der Eltern, der, wie meine Tante Filomena es gesagt hat, ein Geschenk des Lebens an mich war. Aber wie in vielem habe ich mich auch darin getäuscht. Den Schmerz kann man

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