Das Gedächtnis der Libellen
Verewigung gegeben und als wäre in allem diese eine Aufgabe am Werk gewesen, die das Überwuchern des Gedächtnisses zum Ziel hatte. Und ich dachte, dass es vielleicht in unseren Gehirnen solche Ritzen, Öffnungen und Stufen geben müsse, so etwas wie die Ruinen unseres Lebens, in denen die Schmerzen und Wunden von Wörtern, Wünschen und Hoffnungen überwuchert werden, damit wir weiterleben können, ohne an der Erinnerung zu sterben. Mein Gedächtnis hörte an diesem Tag auf, sein Scherbengericht über mich zu halten. Alle Bruchstücke fügten sich zusammen, ich sah meine Schwäche, meine Angst, meine Vergangenheit, und nichts mehr konnte mich davon abhalten, die Scherben wieder einzusammeln. Alle Gedanken, die dem Gericht zum Opfer gefallen und hinausgeworfen worden waren, kamen wieder zu mir zurück. Der Quittenbaum, dieser Hort hunderter leuchtender Früchte, machte es möglich.
Das Dorf lag hell in der Ebene, die Sonne brannte auf dem Weiß der Steine, gleißend strahlte es zu mir herüber. Die Natur zauberte und öffnete die Welt, was mit den Menschen und ihren Häusern geschah, das war vor dem Hintergrund dieses um sich greifenden Wachstums gleichgültig. Später, als ich lange nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und dem Ende des Krieges durch Bosnien reiste und in den Dörfern unzählige zerschossene Häuser sah, Ruinen, in ihnen umgestürzte Öfen, Kühlschränke und Kinderbetten, da bot sich mir das gleiche Bild. Wieder malte die Natur ihre kaltblütige Schönheit in die Welt und kümmerte sich nicht um die Erinnerungen der Menschen, die alles verloren und kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Sie verfolgte nur diesen durchdachten Plan des Wachstums, und es schien, als wüchse sie am liebsten und mit Eifer gerade an jenen Stellen, an denen etwas zerstört worden war. Dort, im Gemäuer eines alten Steinhauses, im zerstörten Badezimmer einer Vorstadtwohnung, in den Ruinen eines eifrig von einst in Deutschland beschäftigten Arbeitern errichteten idyllischen Häuschens, dort wuchs mit präziser Vorliebe eine Wildkirsche, eine Linde, eine Maulbeere. Die Düfte der Früchte, Blüten und Blätter betörten den Ort, so dass man mit geschlossenen Augen hätte glauben können, das Paradies umgebe einen mit diesen wohligen Erdengeschenken, die von der gleichnishaften Verschwendung der Natur herrührten und doch trügerisch waren, wie alles auf Erden trügerisch und dem Verschwinden geweiht ist. Bei all dieser kaltblütigen Schönheit schien es, als hätte die Natur Gottes Rolle übernommen. Mich nahm sie selbstredend unter ihre Fittiche, schenkte mir Zuversicht, ließ mich teilhaben am Zeitmaß der Vögel. Ihre Wahrheit war schrecklich und doch war sie mir zeitgleich Schirm und Schild. Die Toten können nicht mehr singen. Die Vergangenheit ist für immer vorbei und verbindet sich doch unten im Erdreich mit dem Wasser, mit einem Brunnen, in den du voller Neugier ein Steinchen nach dem anderen wirfst (dein altes Kinderspiel) – es dauert lange, bis die Steinchen auf dem Grund ankommen. In der Zwischenzeit lernst du, was der Satz aus dem Psalm einhundertneunzehn wirklich bedeutet, wie er dich stützt, wie du ihn brauchst zum Leben. Ich bin Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir. Immer wieder liest du ihn, immer wieder musst du weinen, weil du zum ersten Mal den Abschied als zum Naturzustand des Menschen dazugehörend begreifst und Abschiede überall in diesem Sommer wahrnimmst. In den Gesichtern der Menschen, an der Weise, wie sie sich kleiden, wie sie ihre Fenster schmücken, wie sie einander Geschichten erzählen, schreiben, sich umarmen, Cappuccino trinken, Zeitung lesen, an den Gürteln, die sie tragen, Ringen, Taschen, Fotoapparaten, die sie bei sich haben, wie sie sich küssen, am Strand, in den Dörfern, in den Städten, an Flüssen, Seen und an irgendeiner weit entfernten Küste.
Ilja würde nie erfahren, dass er den Sommer der Abschiede in mir eingeleitet hatte. Er rief nie wieder an, er schrieb nicht einen Brief, nichts blieb von uns übrig, nur Ezra, von dem er nichts weiß. Nicht einmal Freunde sind wir geworden, und davon hat er immer gesprochen, er hat gesagt, dass wir uns nie verlieren dürften. So etwas hat er sich auszusprechen getraut, ganz laut hat er diese Sätze gesagt, sehr laute Sätze, die ich mir gemerkt habe, denn es sollte klingen, als wäre es ganz einfach, daran zu glauben.
Als ich auf dem Hof stand, verübelte ich ihm Worte wie Freundschaft rückblickend. Damals hatten
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