Das Gedächtnis der Libellen
er hatte Kinder wie mich geschändet, in allen umliegenden Dörfern mindestens eines – und er war nach Amerika geflohen, nach Chicago, war jahrelang irgendwo in dieser großen Stadt untergetaucht und wohl nicht so schnell gestorben.
Der andere war mein Geliebter, er hatte mich aus dem elenden Zustand des mädchenhaften Schneewittchens erlöst, das, ahnungslos über die Archive seines Körpers gebeugt, nichts über Leidenschaft und Lust wusste, und nun war ich eine Frau, nicht seine, nicht Iljas Frau, dafür eine hellwache, die wusste, dass genau dieser Mann, dieser Ilja, mit mir ein Mann hätte werden können, einer, der aufgehört hätte, der ewige unbefriedigte, von seiner eruptiven Lust und Geilheit überrollte Knabe zu sein, der mit mir ein Mann hätte werden können und der genau das nicht tun konnte, zum Glück, kann ich jetzt sagen, ist er es nicht mit mir geworden, sondern ist als scheinbar unschuldiger Junge wieder zu seiner Frau zurückgekehrt, nach Amerika, in die gleiche Stadt, in der er meinem Vater auf der Michigan Avenue hätte begegnen können oder auch auf der in die Vorstädte führenden Sheridan Road in irgendeinem kleinen Café, wo sie einander am Ende als Landsleute begegnet wären und über die Bora hätten sprechen können und über Dalmatien. Mit dieser Möglichkeit muss ich leben.
Ich musste den Tod, den der eine mir brachte, genauso gelten lassen wie die Liebe, die der andere mir schenkte. Ich habe versucht zu sterben, aber der Tod hat mich nicht genommen. Man muss sich den Tod mit dem Leben verdienen. Ich war ihm noch nicht gut genug, er hat mich abgewiesen wie die hungrige Hexe Hänsel abwies, im Glauben, er bestehe aus Haut und Knochen und kein bisschen Fleisch sei an ihm. So wie er für die Hexe ein schlechter Bissen war, so war ich für den Tod ein schlechter Bissen. Und so lebe ich jetzt, zusammen mit meinen Erinnerungen und für immer in Europa und mit einem anderen Mann, der schon lange aufgehört hat, vor sich selbst davonzulaufen. Er kann über meinen unermesslichen Hunger lachen, er kann mich malen, sogar im Dunkeln. Mit Ezra bin ich doch wieder nach Dalmatien gefahren, mein Sohn stellt Fragen und ich reise mit ihm, um ihm Antworten zu geben, die er sehen, berühren und riechen kann.
17
Wäre die Welt ohne Orte und Gegenstände, bliebe uns nur die Leere und jene schleichende Bedeutungslosigkeit, die uns überall und ohne eine Zeit des Übergangs zu Fremden macht. Etwas zu erzählen, das ist meine Art, die Welt zu verstehen, sie auszuhalten, in ihrer Form und Verhüllung. Und jeder Tag, jede Woche, jeder Monat, jedes Jahr, die vergehen, zeigen, dass wir immer andere werden und uns gerade auf Umwegen selbst begegnen, dem, was uns die Spur durch die Zeit weist und was wir in jenem zersplitternden Konstrukt zu binden versuchen, das wir unser Ich nennen. Ilja hat immer die Augen verdreht, wenn ich diese Dinge angesprochen habe, er konnte mit so etwas nichts anfangen, er hatte Ideale, er wollte, dass die Ideale von Bestand sind, dass sie sich als dauerhaft erweisen, und die Ideale haben ihm gezeigt, dass das gar nicht ihre Aufgabe ist.
Manchmal stelle ich mir vor, dass ich im Besitz einer Herzzeitlupe bin, einem kleinen Gerät, mit dem ich bei Ilja sein kann. Dann frage ich Ilja, wie es ihm jetzt geht, in seiner Zukunft ohne mich, ob er noch manchmal aufwacht, schweißgebadet, zitternd wie damals, als wir uns in Deutschlands Süden trennten, für immer, wie ich jetzt weiß, aber damals, da habe ich die Hoffnung gebraucht, all diese Wörter, die sich sonst früher nur romantisch für mich angehört haben, Wörter für Filme, Übergangswörter. Und dann, als Ilja fortging und mich allein zurückließ in jenem klitzekleinen Hotelzimmer, in dem wir uns drei Mal an nur einem Nachmittag geliebt hatten, da hob ich diese Wörter von der Straße auf, wie eine Bettlerin, draußen, in den Cafés, auf den Bäumen, überall lagen diese Wörter herum und wie mir schien, nur für mich. In der Nacht liebten wir uns wieder, wie oft, das habe ich vergessen, es war ein Anlieben gegen die Zeit, gegen ihr wachsames Auge, dem ich mich nicht ausliefern wollte.
Ilja wusste von der Begrenzung, er selbst hatte sie in unsere Welt gesetzt, und wie ein Ertrinkender griff er nach meinen Brüsten, hielt mich fest, zog mich immer wieder an sich, nicht weinen, sagte er, auf gar keinen Fall weinen, ich bin noch immer da. Und ich vergaß, dass ich auch da war, dass ich bleiben würde, in diesem trostlos kleinen
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