Das Gedächtnis der Libellen
sie mich aufgewühlt. Jetzt verstand ich sie in ihrer ganzen Tragweite. Verstand den Betrug, der in ihnen geschlafen hatte, und sie taten weh, waren Waffen, weil sie schon beim Aussprechen Lügen waren. Selbstvergessen stand ich vor dem Haus, die Wolken schossen wie kleine Kontinente über meinen Kopf zu fernen Zielen hin. Ich ahnte ein bisschen, wie es sein könnte, Ilja von heute auf morgen zu vergessen, und ich wollte ihn immer wieder hassen. Ich übte es, ich sagte mir, du musst doch ein bisschen hassen können, sonst wirst du umkommen in dieser Welt, in der nur noch die Liebe eine Provokation ist. Aber der Hass wollte mein Prophet nicht sein, er ging durch mich hindurch und blieb auf diesem Hof zurück, wurde eins mit der alten Luft, vermischte sich mit dem frühen Gefühl des Ekels, ausgelöst durch die Gier meines Vaters.
Ich spürte, dass ich nie ernsthaft einen anderen Menschen gehasst habe, nicht einmal jenen, der das Mädchenkleid verbrannte und die roten Schuhe zerhackte und das Gesicht eines Engels dabei hatte, ein Gesicht, das nichts von seinem Tun verriet. Und wenn man nur das Gesicht gesehen hätte, mit jener erschreckenden Seligkeit in ihm, wäre einem nie der Gedanke gekommen, dass mein Vater dabei war, ein geübter, mathematisch präzise vorgehender Mörder zu werden.
Heute glaube ich, dass das Zerhacken der Schuhe und das Verbrennen des Kleides allen späteren Morden vorausgegangen war. Es bereitete die Lust in ihm vor, die Kinder zu töten und zuvor Macht über sie zu haben, über ihre Luft, über ihre Lungen, über ihre um Gnade flehenden Augen. Mit wem hätte ich darüber reden können? Auch mit meiner Tante sprach ich nicht mehr über den Mann, den ich mein bisheriges Leben lang Vater genannt hatte. Und Geschwister, die etwas gesehen haben könnten, hatte ich keine. Das Wort Vater entkernte sich, löschte sich gleichsam von allein in seiner Bedeutung in mir aus. Nur so konnte ich es ertragen, dass dieses Wort für mich nicht mehr existierte. Es war von nun an ein Wort, das in seiner innersten Weite den anderen gehörte, weil es ihnen gehören durfte, weil jene, denen es zustand, es sich mit dem eigenen Leben verdient und keinen Missbrauch mit ihm betrieben hatten. Vater unser, der du auf Erden getötet hast, wirst im Himmel keine Mutter haben, dachte ich und merkte, dass mich Gebete schon immer gestützt hatten; wie warme Hände, die ich nie sah, die mich aber immerhin hielten.
Tante schwieg, rauchte, brühte Kaffee für uns auf. Wir saßen unter dem Feigenbaum und sahen auf den Berg Biokovo. Sie hatte ihren Dienst an der Wahrheit getan, sie wusste, ich würde jetzt aufhören, meinen Vater und meine Mutter zu suchen. Vielleicht würde ich überhaupt die Suche aufgeben, das Suchen an sich sein lassen, endlich in der Gegenwart leben, sie bestücken mit banalen Wünschen, mit einfacher Zufriedenheit, mit der Freude am Geruch meiner Minze, am Geschmack des Fenchels, an der Art, wie die Libellen trotz allem weiter leben, weiter fliegen.
Es lag auf der Hand, dass ich meiner Mutter im gleichen Maße die Schuld für alles gab. Sie hatte ihn gedeckt, sie war mit ihm geflohen und hatte mich geopfert; es war ihr recht gewesen. Die Polizei hatte bereits Ergebnisse nach monatelangen Ermittlungen vorzuweisen. Ein Verwandter, der in der Stadt arbeitete, hatte Wind davon bekommen und meinen Vater gewarnt. Dann hatten meine Eltern die Koffer gepackt, über Nacht, und in der Frühe schon waren sie nach Split gefahren. Keiner der beiden küsste mich zum Abschied. Ich glaube, sie nahmen ein Schiff, und dann weiß ich nichts mehr über ihre Jahre in Amerika, außer, das sprach sich schnell im Dorf herum, dass sie über New York irgendwie nach Chicago gelangt waren und dort unter einem anderen Namen lebten.
Als ich viele Jahre später in Chicago auf der Michigan Avenue spazieren ging und vom Westin-Hotel in Richtung der Miracle Mile sah, während ein kalter Wind an meinem Mantel wie ein hungriges Kind zerrte, dachte ich wieder an meinen Vater und fragte mich, wie es wohl wäre, ihn hier unter diesen Millionen von Fremden in Downtown Chicago zu sehen, ihn und seine gierigen Augen wiederzuerkennen und ihm Guten Tag zu sagen. Ich habe nie diese Gelegenheit erhalten, sie hätte seiner Lüge und meiner Wahrheit jeweils auf die gleiche Art und Weise geschadet. In Gedanken versunken, war ich zu einem Park gelangt, den man nach Seneca benannt hatte, ein kleines Schild, auf dem »No dogs allowed« stand, hatte man
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