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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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weiß, das klingt jetzt so, als hätte ich meinem Vater alles verziehen. Das habe ich nicht oder nicht so, wie es die Kirche von mir erwarten würde. Aber ich umkreise seine Schatten, um meinem Maulbeerbaum aus der Kindheit den Ort zu geben, den der Maulbeerbaum verdient. Er und alle, die ihn je berührt haben, sollen in mir einen reinen Echoraum finden. Denn immerhin kann ich noch von mir sagen, dass ich jemand bin, der liebt und der das eher von den Bäumen als von den Menschen gelernt hat. Der Maulbeerbaum gehört auch mir, obwohl ich nie an ihm lehnte, wie man sich in Filmszenen an Bäume lehnt und dabei schön aussieht und unschuldig, wie nur ein Schauspieler schön und unschuldig aussehen kann. Das Schicksal der Libellen ist auch meines. Es behagt mir nicht, aber ich muss das Wort Schicksal benutzen. Es ist eigentlich Mathematik, ich könnte das Wort Schicksal auch durch das Wort Mathematik ersetzen. Aber niemand würde mich verstehen. Also entscheide ich mich für das bekanntere Wort, in der Hoffnung, dass man mir folgen kann, aber ich weiß sehr wohl, dass diese Hoffnung so absurd ist wie das Leben selbst absurd ist.

    Mein Vater hat die Libellen strategisch und mit voller Absicht getötet. Er hat sie gesammelt. In einem Album. Bevor er die Kinder getötet hat, war das seine Lieblingsbeschäftigung, sagte Tante Filomena. Sie hat es auf eine Art gesagt, als sei Libellentöten ein Hobby wie jedes andere auch. Manche Menschen, die meinen Vater und meine Großeltern gekannt haben, sagen, es habe an der Zeit gelegen, daran, dass der Faschismus gewütet habe, seine Geschwüre, seine bösen Feuer, da sei das nicht einmal aufgefallen. Aber was war vor dem Faschismus? Der ist ja kein Wunder, das geschieht, auch wenn viele an ihn wie an ein Wunder geglaubt haben. Es sind die Menschen, die den Faschismus machen, und nicht der Faschismus die Menschen.
    Diese bitteren Lebensmandeln kann ich schwer verdauen, andersherum wäre es einfacher, andersherum stünde das Böse dem Guten gegenüber, und das Böse, das wäre schuld. Das Gute hätte noch eine Chance. Vor dem Faschismus gibt es aber die Familie, und die Diktatoren werden in ihr gezüchtet, für übernationalen Nachwuchs dieser Art ist immer gesorgt. Die Familie, eine Fabrik der eifrigen Alleskönner, die plötzlich aus dem Dunkel ihrer Seelen auf die Bühnen dieser Welt treten, Gesetzeseifrige, Regelmacher, die Gesetze und Moral so lange umkehren, bis das Gegenteil von ihnen gültig wird, magisch Erstarkte, die neue Systeme erfinden, Routen, Richtungen, Ziele, mit denen sie andere klein halten und erniedrigen können, um sich selbst sekündlich einer Größe zu versichern, die genauso schwer zu entsorgen ist wie Plastik. Der Einzelne stützt und erhält sie, so wie er es zu Hause gelernt hat. Mathematisch präzises Weitertreten. Mit seinem eigenen Leben. Mit seinem eigenen Gedächtnis, das sich je nach Bedarf verwandelt und irgendeiner gerade inflationär gehandelten Wahrheit dient. Dann werden Leute aus Bildern retuschiert, und so schnell, wie sie von den Bildern verschwinden, so eifrig und spurlos verschluckt sie auch das Leben. Manche werden zur Hauptsendezeit im Fernsehen als Hexen ausgerufen und das Leben geht weiter, alle sind glücklich, der Sommer kommt, alle fahren ans Meer, wieder eine neue Wahrheit, die man als Bürger umsonst bekam. Eine Journalistin wird auf offener Straße im scheinbar weit entfernten Moskau liquidiert, und ein Präsident sagt, ach die, die war doch gar nicht wichtig. Der Präsident hat gelernt. Er lässt erschießen, seine Hoheit weiß, wer wichtig ist und wer nicht. Das Leuteretuschieren wurde in seinem Land erfunden. Leo Trotzki verschwand zuerst von einem Bild, dann erst verschluckte ihn auf Befehl das Leben. Wahrheit ist Recht, sagen die Herrscher, aber sie schenken kein Recht, sie verneigen sich nur stehlend bei Tag. Ich mag keine Leute, die Wahrheiten verkaufen, ich liebe die unschuldigen Lügner, weil sie noch auf der Suche nach sich selbst sind und dann eines Tages feststellen müssen, dass alle Wahrheiten vergänglich sind.

    Mein Vater kannte keine Unschuld. Alles, was er tat, war beschattet von einem anderen Schatten. Er wusste nicht, wie er leben sollte, er hatte nie gelernt, die Schatten zu unterscheiden. Das Problem meines Vaters hatte sich wie ein Geschwür in seinem ganzen Leben ausgebreitet. Zu allem Übel hat er auch noch geschielt. Wie ein Kranker hat er geschielt, und wenn er wütend wurde, sprangen die beiden Augen

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