Das Gedächtnis der Libellen
jeweils nach links und nach rechts, so dass ich manchmal glaubte, sie springen irgendwann ganz heraus, rollen auf den Boden, direkt vor meine Füße, die sie trotz allem nicht zertreten würden. Immerhin war er mein Vater und blieb es auch. Besonders schlimm rollten seine Augen hin und her, schossen regelrecht von einem zum anderen Augenwinkel, wenn er sich irgendeine Strafe für mich ausdachte. Am liebsten rezitierte er mir stundenlang irgendein montenegrinisches Heldenepos und dann, wenn ihn die Rezitation in ihren Sing-Sang-Bann geschlagen hatte, drohte er mir damit, mich an den Maulbeerbaum zu hängen. Er sprach jetzt im Ton eines Liedes, ein Feuer würde er unter mir entfachen, ein großes Feuer, ach so groß, wobei er sich selbst immer mehr in der Rolle des Helden sah. Mit dem Kopf nach unten, Kleines, sagte er, mein Kleines, mein Feines, eines Tages wirst du schon noch sehen, wie stark ich bin, ich werde dich verbrennen, du kleines neugieriges Gör du. Dann wird dir deine Überheblichkeit wie Scheiße aus dem Hintern schießen, vor Angst nämlich, weil du sehen wirst, wie viel Respekt ich verdiene.
Ich versteckte mich danach stundenlang in der Scheune. Ein armes Huhn hatte er mal so verbrannt, eine Katze auch, und dem Hund hatte er es schon mehrfach angedroht. Also glaubte ich Vater. Ich wusste, er ist zu allem in der Lage. Aber als er einmal auch den Hund kopfüber anband und ein Feuer unter ihm legen wollte, sah ich, dass seine Augen schlechter geworden sein mussten, denn der Hund hing fast einen halben Meter neben dem gelegten Feuer. Vater rieb sich die Hände, röchelte rauchend und vorfreudig dem Tod des Hundes entgegen. Aber der Hund starb nicht am Feuer. Er starb an der Leine. Ohne es zu merken, hatte Vater ihn erhängt.
Ob er überhaupt je etwas richtig gesehen hat, kann ich gar nicht sagen. Die toten Libellen und die gehängten Tiere möchte ich wie nahe Verwandte lieben. Ob ich ernsthaft die Libellen lieben kann, obwohl sie tot sind (denn er hat sie alle getötet), weiß ich nicht. Es ist ein Geheimnis, aber Ilja, mein Ilja, jener Ilja, den ich meinen Ilja genannt habe, er hat mir geholfen, an die Auferstehung der Libellen zu glauben. Wie mein Vater ist auch er ein verwandlungsfähiger Spieler gewesen, von einer anderen Machart jedoch, einer, der selbst so sehr zerbrechlich war, dass er einfach nicht wusste, wie man tötet. Vielleicht ist diese Auferstehung die entscheidende Geschichte meines Lebens, meines unsichtbaren und sichtbaren Lebens. Unterschlagen darf ich natürlich nicht, dass ich Spieler immer geliebt habe, dass ich nicht ablassen konnte von ihnen, dass sie mich, obwohl ich Angst vor ihnen habe, bis heute wie Magnetismus anziehen, wie Vulkane, wie Plattentektonik in der Seele. Unmerklich entstand dabei meine eigene Zergliederung. Denn gesucht habe ich allem Anschein nach die Wurzeln der Wurzeln.
Ilja hat mich offenbar auch als Spielerin gesehen. Er hat mich sein Chamäleon genannt, ohne zu wissen, dass er mein Chamäleon gewesen ist. Er ahnte nicht einmal, wie viel ich über Reptilien weiß, über ihre Sehkraft, über ihre Art, mit der Zunge die Welt zu erfassen, die ihnen Nahrung schenkt. Vater hat Reptilien gehasst, vor Schlangen hatte er jedoch Ehrfurcht, irgendeine Art Schicksalsdenken verband er mit ihnen, und es waren die einzigen Male, die ich ihn ängstlich sah, wenn Schlangen über unseren Hof krochen; denn es schien für sie eine Art Route im Garten quer durch das kleine Mohnblumenfeld zu führen.
Die Angst machte Vater zucken, er saß vor dem Haus und alles zuckte immerfort an ihm, die Arme, die Hände, die Füße, die Mundwinkel, alles entglitt ihm in ein Zucken, dem später das Röcheln aus seinem Hals folgte. Um davon abzulenken, sprach er über das Schicksal der Welt und dass uns allen der Untergang sicher sei, das sagte er am liebsten. Ich habe dieses Fatum-Denken meines Vaters immer verabscheut, aber ich hatte es damals nicht so genau verstanden wie heute. Wie hohl mein Vater in seinem Inneren war, sieht man daran, dass der Faschismus sein einziger Trost war.
Wenn ich jetzt nicht davon erzählen und nicht daran glauben würde, dass man auch überleben kann, über ein Feuer gehängt zu werden, wäre es sinnlos, dass ich Ilja getroffen habe, dass er mich gesehen hat und in drei Tagen mehr von mir wusste als alle anderen vor ihm nicht einmal in fünf Jahren von mir in Erfahrung gebracht haben. Er hat sofort gesagt, Nadeshda sei ein schöner Name. Zu schön, hat er
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