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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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schelmisch ergänzt, für einen Menschen, der zu viel hofft und zu wenig geküsst wird. Doch, doch, aber doch, geküsst werde ich oft, habe ich lachend zu Ilja gesagt, und er hat mir seinen rechten Zeigefinger auf den Mund gelegt und Silenzio gesagt. Silenzio! Und: Bei mir musst du doch nicht lügen. Das hat er gesagt, weil er selbst der Lügner war. Er wusste es, er hat nie behauptet, ehrlich zu sein. Vor der Außenwelt hat Ilja sich nicht versteckt, auch nicht vor der Ehefrau. Er hat sich vor sich selbst versteckt. Natürlich hat er das Wort Silenzio aus einem Film geklaut. Ich musste immer bei ihm aufpassen, weil er von irgendwoher irgendetwas aufschnappte und es dann auf eine Weise sagte, als sei das Aufgeschnappte von ihm selbst. Ilja ist schließlich Schriftsteller. Ganz schlecht, hatte schon damals meine Freundin Arjeta gesagt, das ist ganz, ganz schlecht für dich, so hat sie es gesagt, als sie meine kopflose Verliebtheit mitbekam und, dass Ilja auch Geschichten schreibt. Du bist wie eine Fliege, du weißt ja gar nicht, wohin mit dir, sagte Arjeta. Und ich lachte, ich hatte keine Ahnung, wie Recht Arjeta hatte. Und wenn ich keine Ahnung hatte, was gerade geschah, dann lachte ich eben. Andernfalls hätte ich weinen müssen.

    Silenzio!, Silenzio, habe ich Ilja nachgeäfft, weil ich gleich das Gefühl hatte, das Wort wird er öfter sagen, er wird es wiederholen, und zwar immer dann, wenn es um uns geht. Um Nähe und Wärme und das Leben an sich. So ist es auch gekommen, der halbseidene Mister Silenzio war immer mit uns. Einmal haben wir ihn aber betrunken gemacht. Ilja hat gesagt, sag mir jetzt ruhig, dass du mich liebst, Silenzio schläft, ich habe ihn mit Martini abgefüllt. Und wir haben uns geküsst, ganz lange, während der blöde Silenzio schlief. Wir küssten uns so, als hätten wir eigentlich Durst, unendlich lange, ohne auf die Passanten zu schauen. Auf einer Brücke. In Amsterdam. Mitten in der Nacht. Wir waren hungrig, wie man nur nach einer langen Reise hungrig sein kann. Alle Restaurants hatten schon geschlossen und wir hatten nur uns.
    Dann habe ich wieder gelacht, zum ersten Mal auf eine Weise, dass ich auf meiner linken Wange ein Grübchen spürte. Es wird mir niemand glauben, aber nie zuvor habe ich so gelacht, dass ich hätte überhaupt ahnen können, so ein Grübchen zu haben. Ilja sagte, dabei hast du bestimmt die anderen für ihre Grübchen bewundert, früher, als du dir ein Grübchen gewünscht hast. Ja, sagte ich leise, und er küsste meine Ohren, meine Fingerkuppen, meine Wangen. Es gibt nichts Sinnvolleres in meinem Leben als die Tatsache, dass Ilja mir in Amsterdam die Ohren, die Fingerkuppen und die Wangen geküsst hat und ich dabei das Gefühl hatte, dieser Mensch küsst mich so, als küsse er die Farbe meiner Augen, als finde er an jeder Stelle meiner Haut so ein geheimnisvolles Tor und dahinter war ein Leben, das ich nicht kannte. Es war einfach, albern und zeitlos, dieses kurze Leben mit Ilja, das mehr ein Zuruf als ein richtiges Leben war. Aber auch ohne die Zeit auf unserer Seite zu haben, war es doch das Leben selbst, das uns zur Seite stand.
    Wir aßen um Mitternacht und schliefen bis in den Nachmittag hinein, sogar mit dem Trinken fing ich aus Spaß an. Gin schmeckte mir am besten. Mit Ilja kam nie das schlechte Gewissen, es war einfach nicht da, obwohl ich mich an einem Betrug beteiligte, an etwas, das mir früher unvorstellbar und so entfernt von meiner Welt vorgekommen war. Aber ich hatte nie das Gefühl, mir Ilja zu stehlen, weil er einfach von sich aus alles gab. Ich ertappte mich nach einer unserer Nächte einmal am Flughafen dabei, eine blonde langbeinige Frau zu verurteilen, weil sie einem Mann, der gerade sein kleines Kind in den Armen hielt, immer wieder mit einem verheißungsvollen Blick intensiv in die Augen sah. Seine Frau war kurz zur Toilette gegangen. Und während ich böse auf die Blondine war, begriff ich, dass ich das Gleiche wie sie tat, noch Schlimmeres, ich liebte Ilja, ich wollte mich nicht zerstreuen wie diese Frau, die sich gleich wie ein Mannequin umdrehte, als die Mutter zurückkehrte und das Kind wieder zu sich nahm, während sie ihm auf den Rücken klopfte, damit es ein Bäuerchen machte. Die Blonde verschwand schnell und langbeinig in der Menge. Was war der Unterschied zwischen ihr und mir? Sie wollte den anderen stehlen. Ihr Blick hatte jene namenlose Gier, die nur besitzen will. Ich war nicht gierig, ich wäre auch nur für eine Stunde nach New

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