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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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York geflogen, um Ilja anzusehen, nur um mit ihm zu reden. So etwas machen Gierige nicht, so etwas machen nur dumme Menschen.

    Später las Ilja Hemingways Buch Paris, ein Fest fürs Leben. Wir schrieben uns regelmäßig Briefe, oft mit kleinen Berichten über Filme und Bücher, die wir mochten. Ilja zitierte in einem seiner Briefe ein paar Passagen, mit denen Hemingway ihm half, sich selbst besser zu verstehen. Er beschreibt an dieser Stelle ein Treffen mit Gertrude Stein, bei dem ihm seine Jugend und die Begrenzung durch seine Ehe bewusst geworden waren. Und Ilja begriff am Beispiel von Hemingway, dass andere vor ihm in der gleichen Lage wie er gewesen waren, dass es so normal wie schrecklich war, wenn man mit zwanzig geheiratet hatte, irgendwann auch die Liebe und das Begehren zu anderen Menschen zu entdecken, dass man, so sagte er es selbst, nicht nur einen Menschen sein Leben lang lieben musste. Work could cure almost anything, I believed then, and I believe now. Then all I had to be cured of, I decided Miss Stein felt, was youth and loving my wife. Diesen Satz schrieb Ilja für mich ab. Ich las ihn und weinte, ich konnte nicht aufhören zu weinen, ich las ihn eine ganze Stunde lang immer wieder vor mich hin. Zum ersten Mal dachte ich, dass ich mich wortlos von Ilja zurückziehen, ihn loslassen musste, weil ich sein ganzes Unglück und die Unmöglichkeit eines Abschieds von seiner Ehefrau verstand. Selbst wenn er nie mein Mann würde, von seiner Jugend verabschiedete er sich doch. Dieses Mal war ich es, die einen anderen in den Abschied eingeführt hatte. Durch mich war Ilja an diesen Rand gekommen. Er wird diesen Abschied meistern, ging mir durch den Kopf. Er wird es schaffen, auf seine Art, ohne mich. Vielleicht, dachte ich, um niemals mehr irgendeine andere Art von Leben in Erwägung zu ziehen. Er wird den Abschied schaffen, aber er wird eben nicht der Spieler sein, für den er sich hält. Er wird den Abschied als Krieger auf sich nehmen. Aber es blieb ein Abschied auch von mir. Daran konnte auch ein Krieger nichts ändern. Und wie jeder tief greifende Abschied, stellte er Ilja vor die Bilanz seines ganzen Lebens. Ich hatte ihn zu dieser Bilanz geführt. Er verzieh es mir nicht. Die Unschuld gab es nicht mehr. Er konnte nicht so weitermachen wie bisher, es war unmöglich für ihn geworden, eine Nacht mit einer anderen Frau zu verbringen und diese Nacht einfach in sich zu streichen. Sonst hatte er immer in betrunkenem Zustand irgendetwas mit anderen Frauen angefangen, aber sie wussten weder, wo er lebte, welchen Beruf er hatte noch ob er verheiratet war oder nicht – und schon gar nicht den Namen der Ehefrau oder den Ort seiner Geburt oder das Stockwerk, auf dem er mit ihr wohnte. Er erzählte ihnen einfach gar nichts über sich, ein kleiner Fick irgendwo, in einer Mittagspause, vor einem Dinner, bevor ein Flugzeug genommen wurde, ein Zug, ein Bus, und das Leben ging weiter wie bisher. Treue war ein weites Feld, und es schien, als hätte Ilja, bevor er mich traf, Treue nur als einen geistigen Zustand definiert. Solange er nichts über sich erzählte, hatte er sich eingeredet, würden diese Begegnungen niemals als Betrug bezeichnet werden. Es gab eine eigenartige Anziehung zwischen ihm und der Schuld, die etwas Wesenhaftes für ihn ausstrahlte. Er brauchte die Schuld, um zu leben und um Grenzen zu überschreiten, an denen er sich selbst am besten spürte. Dabei riskierte er, alles zu verlieren, was er bisher in seinem Leben sicher gewähnt hatte. Aber er vergaß es in diesen Momenten, er wurde einfach magnetisch von den Frauen angezogen.

19
    Ich kann es nicht lassen, meine Geschichte neu zu schreiben, sie immer wieder neu zu schreiben, sonst hätte ich das Gefühl, lediglich in der beschriebenen Form und nur auf dem Papier und für immer in dieser bereits beschriebenen Papierform zu existieren. Eine solche lyrische Existenz geht über meine Kräfte hinaus. Ich kann nicht ausschließlich lyrisch sein. Das wäre die Einlösung meines alten Lebens. Ich bin kein Gedicht und kann auch dem Gedicht nicht standhalten, dazu bin ich nicht bescheiden genug. Vielleicht bin ich gezwungen zu erzählen, vielleicht kann ich gar nicht anders leben. Und wenn ich es so sehe und an meine Erfindung, an meinen neuen Namen denke, dann habe ich ihn doch von niemand anderem als von Nadeshda Mandelstam. Diese Frau habe ich schon immer geliebt. Für alles, was sie getan hat, für das Auswendiglernen der Gedichte ihres Mannes Ossip

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