Das Gedächtnis der Libellen
gefunden, kenne seine Nummer, den Namen seiner Straße, und seine Hausnummer kenne ich auch. Ich habe das nicht getan, um Ilja zu schreiben oder ihn anzurufen oder um eines Tages in Kalifornien vor seiner Tür zu stehen. Ich wollte nur sicher sein, dass es ihn wirklich gibt. So habe ich das Gefühl, ich darf noch immer an ihn denken.
Alles, was in jenem Frühjahr und Sommer geschah, sah aus wie in einem Schelmenroman, nur dass ich die ganze Zeit glaubte, nicht ich sei der Schelm, sondern Ilja natürlich. Ich dachte wohl, als Schelm unterwegs zu sein, das sei nur den Männern vorbehalten. Niemals zuvor hatte ich mein Leben als eine Ansammlung von Fraktalen erlebt, jetzt war ich anders allein, anders als früher – und ich konnte nichts mehr von allein zusammensetzen. Ich brauchte die Anderen. Der Tod sitzt ja drin in dir, dachte ich, wie im Bruder deines alten Großvaters, als er dich damals an sein Sterbebett rufen ließ, auf dich wartete, nicht sterben wollte ohne dich. Die Kinder des Briefträgers kamen an jenem Sonntag atemlos auf den Hof gerannt. Einer der Jungen sagte, du musst mitkommen, Antun will nicht sterben, nicht ohne dich vorher gesehen zu haben. Ich wusste gar nicht, dass Onkelchen Antun im Sterben lag, und noch während ich mir die Sandalen anzog, spürte ich mitten im Sommer jene tief aus der Erde herausstrahlende Kälte, die sonst auch in den Seelenkellern der Menschen wohnt, wenn man ihnen zu nahe tritt. Und wenn die Dunkelkammern ihrer Träume plötzlich an ihren Wangen lesbar werden, sie aber vor der Zeugenschaft eines anderen zurückschrecken und ihn lieber töten würden, als von ihm gesehen und erkannt zu werden. Aber für gewöhnlich entstieg diese Kälte der Lebensbilanz eines scheidenden Menschen, einem Wesen also, dem die Zunge schon versagt, aber der in seiner Haut noch die Sprache der Zeit abgespeichert hat, so dass du sie lesen kannst, ob du das Alphabet kennst oder nicht.
Die Haut eines solchen Sterbenden ist voller Zeichen. Antuns Haut war ein Zeichenwald für mich. Er sah mir direkt in die Augen. Ich sah zum letzten Mal seine Iris. Sie rief mich mit Stille. Und was sie sagte, war jenseits von Sprache. In den Augen dieses sterbenden Menschen sah ich etwas, dem ich später, als ich mich der Physik verschrieb, den Namen Kosmos gab. Aber damals, nur wenige Augenblicke nach Antuns Tod, hatte ich es »das weite Meer des Sterne« genannt. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich an seinem Bett zum ersten Mal in meinem Leben die Augen und den Himmel, das Universum und den Menschen als eine Sache dachte, der Gedanke formte sich gleichsam von selbst in mir, ohne dass ich dafür Worte gebraucht hätte.
Ich trat an sein Bett heran und sah in seine seeblauen Augen. Sie lächelten mich an, und ich erinnerte diesen Moment später immer zusammen mit meinem Gedanken, der sich in mir weiter ausdehnte, als sei er eine Farbe, die zerfließt. Die Augen sind das Abbild des Universums zum Zeitpunkt der Geburt. Jahre später schrieb ich diesen Satz in einem meiner Bücher. Und beim Schreiben wusste ich, dass Antuns Augen mir diesen Satz gesagt hatten. Aber ich wusste nicht, wie ich das in Erfahrung gebracht hatte und warum ich wusste, dass ich es wusste. Aber ich wusste es und ich habe es seither nie mehr vergessen.
Die Grübchen an seinen Wangen waren wie Falten eingekerbt, tief in sein Gesicht eingezeichnet, wie Flüsse, dachte ich am Bett meines ersten Toten, fließen sie Onkelchens Gesicht entlang. Mit einem Mal öffnete er seine Augen und einen zarten Zeitschritt lang blitzte das Leben aus ihnen heraus, sie leuchteten auf eine Art, als seien sie mit dem Flug der Schwalbe verwandt, als verbinde die Farbe alle Vögel, Gärten und Bäume und als sei das die Essenz seines gelebten Lebens, die Summe seiner Erinnerungen, seines Sinns.
Ich berührte zärtlich seine Wangen mit der Kuppe meines Zeigefingers. Da sprach er plötzlich, er sagte, das Leben ist eine Orange, meine Kleine, wenn du das nicht verstehst, wirst du immer unglücklich sein und am Ende allen Unglücks wirst du, und das ist das größte Unglück, unwissend sterben. Ich schluckte hastig. Das Leben ist eine Orange, wiederholte ich zitternd vor Aufregung seinen Satz. Ja, sagte er, du musst das Leben wie eine Orange ehren, verstehst du? Mir kamen aus unerfindlichen Gründen sofort die Tränen, und aus Angst, dass ich die Letzte sein würde, die er vor seinem Tod sah, fing ich an, ihm alle möglichen Versprechungen zu machen, dass ich ihn
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