Das Gedächtnis der Libellen
Mandelstam – zum Beispiel, und jetzt, in diesem Augenblick, grundlos, oder auch, weil ich von ihr gelernt habe, die Scheu vor dem Wort Liebe zu überwinden. Und weil Ossip ihr Liebesbriefe geschrieben hat, die ich selbst gerne bekommen hätte. Ich wäre auch gerne für jemanden, den ich liebe, sein Moskau und sein Rom und sein kleiner David . Aber auch Ilja, an den ich seit Jahren Tag und Nacht ohne Unterbrechung denke, auch er wollte nur Liebesbriefe bekommen, aber schreiben, schreiben konnte er keine. Jedenfalls keine offiziellen.
Möglichweise wollte Ilja etwas, das nur ich ihm geben konnte: einen Glauben, der über die Zeit hinweg wirkt und zu einer Brücke für ein anderes Leben wird. Zur Brücke. Nicht zum Leben. Deshalb hat Ilja seine Briefe mit Colonel Berger oder Walter unterschrieben. Wir haben viel darüber gelacht. Heute glaube ich, dass ich eine Chance gehabt hätte, wenn ich weniger gelacht und aufrichtiger meine Gefühle beschrieben hätte.
Deine Paranoia ist grenzenlos, habe ich gesagt. Wie immer hatte Ilja alles mit literarischen Verweisen und Zitaten aller Art gespickt. Offenbar befand er sich mit unserer Geschichte in einem bewusst eingegangenen Krieg und hielt sich an André Malraux’ Maxime »Nicht wahr, nicht falsch, aber gelebt«. Das Verwunderlichste an Ilja waren nicht seine noms de guerre, sondern die Vielfalt seiner Schuldgefühle. Die Art, wie er sie beschrieb und mit ihnen umging, schien einer immer wieder neu zu belebenden inneren Besessenheit zu entspringen und bereitete ihm Lust, als befände er sich in einem fortwährenden Duell mit seiner Seele. Eines Abends, als wir uns in Süditalien trafen, wo er an einer Tagung teilnahm, sagte Ilja plötzlich, es sei schade, dass ich nicht auch verheiratet sei. Das wäre doch das Süßeste, sagte Ilja. Mir war ein bisschen schwindelig, als ich diesen Satz hörte. Ich musste mich setzen, der Schwindel stieg vom Magen her auf und blieb mir in der Lunge stecken. Obwohl Ilja diesen Satz später nie wiederholt hat, wurde mir immer bei seinen Witzen ein bisschen vom Bauch her schwindelig und ich fühlte mich so, als hätte ich viel getrunken, ohne zu merken, wann ich die Grenze überschritten hatte.
Iljas Witze drehten sich immer um Schuld und Unschuld, er glaubte sowohl an das eine als auch an das andere, und zwar in jeweils gleich wirksamer Form. Mich überraschte dieser handfeste Glaube. Für jemanden, der mit Gott nichts anfangen konnte und der sich mit der berühmten mitteleuropäischen Ironie über den Wassern des Lebens hielt, erschien mir sein Eifer in dieser Frage nahezu religiös.
Ilja suchte die Schuld, wie andere eine Quelle in der Wüste suchen. Er konnte nicht anders leben, obwohl er luzide genug war, um genau zu merken, dass er dieses Mal an seine Grenzen gekommen war und der Boden, der ihm früher immer Halt und Orientierung verschafft hatte, jetzt gänzlich ausgetauscht worden war. Sand hatte sich auf die glatte Oberfläche seines Lebens gelegt, und eine Sanduhr hatte das Leben selbst dazugestellt, und diese Sanduhr war ich. Ilja versuchte die Sandkörner zu zählen. Ich schaute ihm dabei zu, während sein Sand auf mein Leben übergriff und ich schon nach kürzester Zeit nicht mehr sagen konnte, was das eigentlich war – mein Leben.
Ich kaufte mir den ganzen Sommer über Kleider, Röcke, Blusen, und als das nicht half, meine Unruhe zu vertreiben, ging ich zu Taschen über, ich kaufte mir eine Tasche nach der anderen, für jede Gelegenheit suchte ich mir eine aus, variierte Größen, Formen und Farben, und dann entdeckte ich Halsketten, Ohrringe und Armbänder. Ich gab mein ganzes Geld für Schmetterlingsknöpfe und Marilyn-Monroe- sowie Romy-Schneider-Bildbände aus und kaufte mir Repetto-Ballerinas, die Brigitte Bardot getragen hatte und die fast so viel kosteten wie eine Zugreise nach Paris. Nichts half mir aus meinem neurasthenischen Zustand heraus, keine Bauernschläue und keine theoretische Logik. Alles, was früher geholfen hatte, half jetzt nicht. Kein Wegrennen, keine Feste, keine Reise, keine Drogen, keine Zigaretten, nichts, einfach nichts, auch kein Whiskey. Ich war nicht mehr in der Lage, mich zu betäuben, aber eines wusste ich doch – dass dieser rastlose Zustand irgendwann ein Ende haben musste. Das also hatte Ilja mir geschenkt, bevor er, wie er sagte, für immer mit seiner Frau nach Kalifornien zog. Ich weiß den Namen der Stadt, wo Ilja jetzt lebt, ich habe sogar im Internet das dortige Telefonbuch
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