Das Gedächtnis der Libellen
nie vergessen, immer an sein Grab kommen, für ihn beten, ihm Blumen an jedem Sonntag bringen würde. Er lächelte. Er wusste, dass ich das niemals einhalten konnte, und auch dafür, für diese Erkenntnis, hatte er mich ausgesucht. Später habe ich nichts mehr versprochen und bekam Angst, wenn die Männer, die ich liebte, mir ewige Liebe schworen. Ich wusste, dass sie mich nicht ewig lieben konnten, dazu war ich viel zu rechthaberisch. Jene, die so lieben, auf diese Art in der Zeit zu Hause sind, sprechen nicht darüber, sie sagen nie das Wort ewig, weil sie wissen, dass sie dafür vom Augenblick bestraft werden können.
Ich war die Letzte, die mein Onkelchen Antun lebend sah. An mich richtete er seine letzten beiden Sätze auf Erden. Einerseits machte mich das glücklich, andererseits unglücklich, denn ich wurde das merkwürdige Gefühl nicht los, dafür sorgen zu müssen, dass man ihn nicht vergaß. Es ist eine Macke von mir, ich bin sie bis heute nicht losgeworden. Antun starb, während meine Hand auf seinem Grübchen ruhte. Draußen schien die Sonne. Der Sommer machte alles hell und schimmernd, die Rosen, der Flieder und der Lavendel erfüllten die Luft. Und die Wolken stoben dahin, wurden eifrig schreibende Gefährtinnen des Himmels. Das Leben ist eine Orange, sagte ich laut vor mich hin, offenbar noch unter dem Eindruck eines Erbes stehend, das ich zu verwalten hatte. Die Verwandten schimpften über mich. Was denn für eine Orange, fragte eine Nachbarin, du verrücktes Huhn, hast nicht einmal Respekt vor einem Toten mit deinen Brabbeleien.
20
Arjeta ist überzeugt, dass meine Art, der Wirklichkeit zu begegnen, noch immer eine versteckte Form des Wartens ist. So, sagte sie, kannst du wieder nur warten, auf das Entstehen neuer Kontinente und irgendwelche anderen großen Ereignisse, vielleicht denkst du dann wieder über Sterne nach und sagst Sätze wie, alles, was nur annähernd einen Wert im Leben besitzt, kann man nicht kaufen, mit nichts, schon gar nicht mit Geld.
Arjeta ist genauso wie ich überzeugt, dass das stimmt, aber wie Ilja hat auch sie sich in ihre mitteleuropäische Ironie wie in ein Schneckenhäuschen zurückgezogen, und das hilft ihr, meine leidenschaftlichen Sätze mit irgendeinem Witz zu unterwandern und sie dennoch neben Brot und Pizza und frischen Tomaten, jene allerbesten aus dem Garten ihrer Großmama, für Nahrung zu halten. Arjeta weiß das, obwohl sie Sarajevo unter Beschuss erlebt hat, ist sie ein glaubender Mensch geblieben. Sie sagt, sie glaube an die Wirkkraft der Dinge genauso wie an die innere Welt, nicht obwohl sie, sondern weil sie Sarajevo überlebt habe. Arjeta kennt sich auch mit dem Warten aus. Es ist ein anderes Warten als das meine. Jeder Mensch hat sein eigenes Warten. Aber es ist wahr, was sie sagt, ich bin anfällig für jede Art von Warten. Der Physik habe ich gerade noch rechtzeitig den Rücken gekehrt. Wenn ich nicht die Welt der Wörter hätte, dann würde ich am Warten sterben und dafür auch noch Formeln zur Hand haben, die mir logische Begründungen dafür liefern, dass am Warten und an der zäh dahinfließenden Zeit zugrunde gehe, die sich schwerfällig in die Seele wie der Staub über die Gegenstände in meiner Wohnung legt.
Dabei gibt es nichts Schöneres für mich als die Vorstellung, mein beharrliches Warten könnte dazu führen, von Ilja richtige Liebesbriefe zu bekommen, Briefe, die in meinen Briefkasten von meiner schönäugigen Postbotin geworfen werden, vielleicht weil ich denke, ich könnte dann richtig leben und den aufrichtigen Briefen würde das aufrichtige Leben folgen, Ilja, sein Körper, seine Gestalt – denn das war damals das richtige Leben für mich: Ilja und alles, was mit Ilja in einem Zusammenhang erschien. Was das ist, diese Lust an Liebesbriefen, das weiß ich erst, seitdem ich dreißig bin, vorher war ich keine Frau. An meinem dreißigsten Geburtstag habe ich André Bretons Buch Nadja gelesen. Ich habe Breton immer sehr geliebt, aber dass er seine Nadja in einer Irrenanstalt leben und sterben lässt, das habe ich ihm nie verziehen, so wie ich es meinem Vater, allem wertfreien Erzählen zum Trotz, nie verziehen habe, dass er die Libellen getötet hat, dass er sie gesammelt hat – in seinem grässlichen Album. Noch immer kann ich nicht die ermordeten Kinder als echte Menschen denken. Noch immer weine ich nur wegen der Libellen, und vielleicht wird das die einzige Art für mich bleiben, mich Schritt für Schritt dem Undenkbaren zu
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