Das Gedächtnis der Libellen
nähern.
Breton habe ich aus anderen Gründen nicht verzeihen können. Weil er ein Mann war, der geliebt hat. Und weil er eine Frau, die er in seiner Phantasie geliebt hat, in einem Irrenhaus leben ließ, zwar nur in einem Buch, aber vierzig Jahre lang, das ist zu lang für einen Menschen, der die Hoffnung im Namen trägt, zu lang für jeden Menschen, selbst wenn er nur in einem Buch vorkommt und nur in einem Buch geliebt wird, so wie ich jetzt Ilja nur in diesem Buch lieben kann.
Nadjas vierzig Jahre in der Irrenanstalt! Dass Breton sich das ausdenken konnte, hat mir an meinem dreißigsten Geburtstag den Boden unter den Füßen weggerissen. Natürlich zum einen, weil ich selbst eine Frau bin und weil ich Nadja nicht beschützen konnte, als Leser kann man Leute aus Büchern nur lieben (und das verhält sich, wie ich nun weiß, im Leben genauso), und weil meine Angst mir selbst galt, weil ich selbst nie wie Nadja enden wollte. Und natürlich, weil es mir beinahe passiert wäre, beinahe wäre ich gänzlich von fremden Regeln besiegt worden. Ich hätte damals beinahe das Buch weggeschmissen, aber ich habe mich nicht getraut, es war eine schöne, hellviolettfarbene Ausgabe aus der Bibliothek Suhrkamp, und ich habe mich entschieden, das Buch nicht fortzuwerfen, sondern es immer grimmig anzugucken, wenn ich an dem Bücherregal entlang in Richtung meiner Küche ging. Ich habe niemanden erzählt, dass ich in der Zwischenzeit verstanden habe, warum das Leben eine Orange ist. Erzählen kann man so etwas nicht, nicht einmal Arjeta oder Ilja gegenüber habe ich das erwähnt. Jeder weiß, wie eine Orange aussieht, und jeder hat ein Leben. Ist das Leben dem Zufall unterworfen? Oder ist der Zufall nur etwas für Feiglinge? Ich glaube, Gott würfelt, warum auch nicht, jeder würfelt, Ilja hat gewürfelt, ich würfle. Niemand entkommt dem Leben, alle müssen früher oder später Spieler werden, wenn sie nicht verschlungen werden wollen, vom Schmerz, vom Wetter, vom Abschied, von der Liebe oder der Erinnerung an sie. Ilja hat mir etwas gegeben, was mir niemand zuvor gegeben hat – das Gedächtnis meines Körpers. Und als Ilja das erste Mal von mir fortging, habe ich mittels dieses Gedächtnisses das Gefängnis in meinem Kopf geöffnet.
Es fing gleich nach Iljas Abreise an. Das Zittern in meinem Kopf, die Träume kamen zu mir, auch untertags, wie Insekten, der ganze Kopf war voll schwirrender Flügel. Hatte ich selbst über Jahre hinweg die Gefangenschaft der Insekten möglich gemacht? Wer weiß, wie lange sie in mir gewohnt hatten, vielleicht mein Leben lang? Noch vor meinem Leben, im Kopf meiner Eltern vielleicht, im Kopf der Großmutter, des Urgroßvaters, im Kopf eines Passanten, der eine Tante so innig unter einer Palme in Split küsste, dass sie verrückt wurde, niemals mehr einen anderen lieben konnte und seit diesem Tag den Rest ihres Lebens stotterte, auch dann, wenn sie nur einen Liter Milch oder ein paar Scheiben Käse kaufen wollte. Sie habe in der falschen Zeit gelebt, sagten die Dörfler, sie wussten also genauso viel über die Physik wie über die Arbeit der Erinnerung. Aber weder das eine noch das andere hat der Frau geholfen. Ihr Stottern ist für immer geblieben.
Manchmal habe ich Angst, dass ich wie jene stotternde Verwandte werden könnte. Die Geräusche der Insekten sind sehr laut, nur das verlangsamte Sprechen scheint sie zu beeindrucken. Ich kann nichts dafür, eingesperrt habe ich die Insekten nicht selbst. Das Schreiben ist meine Art, langsam zu sprechen. Die Insekten haben durchaus eigene Ideen. Es ist geschehen, einfach so, im Laufe meines Lebens und im Laufe der Leben all der anderen, die meinen Weg gekreuzt haben, irgendwo, unterwegs von einem Ort zum anderen, von einer Sprache zur anderen, von einer Stadt zur anderen. Als ich anfing an die utopische Stadt zu glauben, in deren Mitte sich der ideale Bezirk befindet, da hat es angefangen, das Wackeln in meinem alten Namen. Und ich habe gespürt, wie ich gleich ein bisschen älter geworden bin, unmerklich, still, wie die Leute in Leonard Cohens Liedern, wie Kinder, denen man gesagt hat, das Leben sei eine Orange und die das Gefühl haben, diesen Satz mit dem eigenen Leben, der eigenen Zeit und den eigenen Füßen zu verstehen.
Die Vorzüge des Alterns sind, dass die Jahre uns die Melancholie aberkennen, wir haben kein lebenslanges Anrecht darauf, töricht zu sein. Wir müssen lernen, das Altern als eine autonome Werkstatt der Zahlen zu sehen. Ilja
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