Das Gedächtnis der Libellen
hat eine besondere Beziehung zu Zahlen, er sieht alles Mögliche in ihnen, eine Sieben ist für ihn zum Beispiel eine Nase. Ilja schreibt seine Bücher immer nur in Amerika. Ich weiß nicht, welche Mathematik sich hinter diesem Zufall verbirgt, aber ein Zufall ist es sicher nicht, dass Ilja genau in jener Stadt mehr als die Hälfte seines Lebens verbracht hat, in der sich meine Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg niedergelassen haben und in der ich später studierte, ohne zu wissen, dass die Flucht meiner Eltern hier ihr vorläufiges Ende genommen hatte. Mein Vater ist nach seiner Zeit in New York für den Rest seines Lebens in Chicago untergetaucht. Tante Filomena hat mir erzählt, dass er einen italienischen Namen angenommen hat. Gianfranco Patrini oder Gianni Parloni soll er sich nennen, ich habe es mir nicht gemerkt, finden wollte ich ihn ohnehin nicht mehr. Aber selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte ihn niemals gefunden.
Opa und Oma kamen zuerst über Ellis Island nach New York, später, als sie sicher waren, dass sie nicht mehr nach Dalmatien zurückkehren würden, gingen sie nach Chicago. Warum sie ihre fünf Kinder nicht gleich mitgenommen und einfach im Dorf bei Verwandten gelassen hatten, lag auf der Hand, sie wollten erst sehen, ob sie es selbst schafften.
Kranke, Analphabeten, politisch Radikale und Vorbestrafte durften damals nicht nach Amerika einreisen. Meine Großeltern waren Analphabeten, aber irgendwie haben sie das kaschiert, ich habe keine Ahnung, wie sie es geschafft haben, den strengen Beamten vorzumachen, dass sie schreiben können. Vorwitzig sollen sie wohl schon immer gewesen sein. Vielleicht hat mein Großvater Wanja, der Koch bei den Partisanen war, den Amerikanern am Sammelschalter irgendeinen dalmatinischen Bären aufgebunden. Und das an sich wäre schon der Bär, denn es gibt überhaupt keine Bären in Dalmatien und die Partisanen hatten in Wirklichkeit gar nichts zu essen.
Ich habe meine Großeltern nie getroffen, jedenfalls erinnere ich mich nicht daran. Von meinem Großvater weiß ich lediglich, dass er nur seinen Namen schreiben konnte, und wer weiß, wie er meine arme Großmutter Milena dazu gebracht hat, es auch zu lernen. Vielleicht haben sie auf dem Schiff, das sie in Split bestiegen hatten, eifrig geübt, mit einem alten Zimmermannsbleistift von zu Hause, die Überfahrt dauerte eine halbe Ewigkeit, Zeit hatten sie also genug, das Alphabet zu erlernen. Was sie anderes als das Alphabet gerettet haben könnte, das weiß ich nicht, ich kann mir auch überhaupt nichts anderes vorstellen. Nur der eigene Name kann ihnen die Türen für Amerika geöffnet haben. Sie durften sich zu den Auserwählten zählen, sie durften durch die Tür gehen, auf der Push to New York stand. Und sie gingen durch diese Tür.
Deshalb bin sicher auch ich eines Tages nach Amerika gegangen, nicht, um dort zu bleiben, aber um mir die amerikanischen Türen anzusehen. Ich konnte nicht wissen, dass ich ausgerechnet dort Ilja treffen und auf Großvaters Geheimnis stoßen würde, der nicht nur einen russischen Namen, sondern auch einen russischen Vater hatte. Sein Geheimnis ist auch weiterhin eins geblieben. Ich habe es niemandem erzählt, dass er ein umtriebiger Charmeur war. Die Archive der Geschichte sind für alle geöffnet, und wer von meiner Familie will, kann sich unsere Vorfahren und unseren Stammbaum ganz genau anschauen. Aber dafür muss er bereit sein, die Geschichte, die er kennt, für immer aufzugeben.
Ilja hat es genau andersherum gemacht, aber genauso wie meine Großeltern hat auch er nach einem Krieg dem Balkan, Europa an sich, den Rücken gekehrt. Er hat sich entschieden, in Amerika zu bleiben, deshalb, sagt er, sei er von Chicago zunächst nach New York gegangen. Zumindest hat er eine Weile immer so getan, es war sein Plan, den er schon lange hegte, zusammen mit seiner Ehefrau. Ich weiß nicht, ob es stimmt, ob er wirklich eine Frau hat. Manchmal glaube ich, er lügt mich an, um meine Vorstellungskraft zu testen. Dein Name ist doch Nadeshda, sagt Ilja. Er versteht es einfach nicht, dass ich mit meinem Namen alles Mögliche beweinen muss. Es sind keine Tränen des Unglücks, nicht nur, ich muss auch weinen, wenn die ersten Schwalben kommen, der rote Klee Blüten treibt und abends seine Blätter schlafen gehen, ich weine, wenn ein Mensch sein Leben ändert oder zwei meiner Freundinnen entdecken, dass sie beide zeitgleich und unabhängig voneinander auf zwei verschiedenen Kontinenten
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