Das Gedächtnis der Libellen
Frau genau seit dem Moment, an dem sie sich einander versprochen haben. Vorher nicht, vorher war er ihr Jahre lang jeden einzelnen Tag treu. (Langsam kommt mir die Institution der Ehe wie eine Ergänzung zu André Bretons Surrealistischem Manifest vor.)
Vielleicht sagt Ilja so ein Wort wie Hafen einfach ins Blaue, weil er es einfach gerne sagt und weil er dalmatinische Wurzeln hat. Da muss mindestens einmal am Tag das Wort Hafen fallen, und wie jeder echte dalmatinische Mann muss auch er mir zeigen, dass er ein Matrose ist, der zwar da ist für mich, aber jederzeit aufs offene Meer hinaussegeln kann. Und weil dieses Odessa in ihm arbeite, immer dann, wenn wir nur an das bloße Wort Zukunft dachten, kam – als sei das Bosnische und das Dalmatinische nicht Schicksal genug für uns zwei – auch noch das Russische zum Tragen. Und dann sagte Ilja Sätze, die sich wie etwas aus dem Exil und mindestens wie etwas von Joseph Brodsky anhörten. Er wusste genau, was für eine Wirkung das auf mich hatte. Soll Englisch meine Toten behausen. Auf Russisch will ich lesen, Gedichte oder Briefe schreiben. In englischer Sprache zu schreiben, ist wie Geschirr waschen – es hilft manchmal sehr.
Ich bin sehr anfällig für Sätze von Joseph Brodsky, und wenn Ilja mich verführen wollte, auf einer Wiese, im Wald, an einem Fluss oder in den Bergen, dann sagte er immer so etwas schicksalhaft Russisches und konnte mich auf unebenes Terrain führen. So nannte er das. Unebenes Terrain, das war ein Terrain, das mich verlocken sollte und auf dem ich mich nicht auskannte. Ilja war völlig verdorben in diesen Momenten, er sagte, ich weiß einfach, dass du allem ausweichst, was ein bisschen pornographisch klingt. Und dann sah er mich lange an, inspizierend, als forsche er meine Wangen anstelle meines Geschlechts aus, als entziffere er sie mit seiner Iris wie ein geheimes Buch.
Damals, in Amsterdam, als wir uns noch gar nicht so gut kannten, da ist er einfach ins Badezimmer gekommen, hat mich angeschaut, von oben bis unten, und als er sah, dass ich mich wegen meiner vor Kälte rötlichen Haut und wegen meiner selbsttätig stammelnden Nacktheit vor ihm schämte, da hat er gesagt, wir haben dieses Mal nur diese drei Tage zusammen, das ist zu wenig Zeit, um sich in dieser Zeit auch noch wegen irgendetwas zu schämen, das überhaupt keine Bedeutung hat. Aber für mich hatte das eine Bedeutung, und zwar genau wegen der kurzen Zeit, alles hatte eine Bedeutung wegen der kurzen Zeit für mich, denn so und nicht anders würde er mich später erinnern, dachte ich, und so und nicht anders würde er mich später vergessen, wenn es Zeit war, sich nicht mehr zu erinnern und mich ganz und gar zu vergessen. Da würde meine vor Kälte rote Haut genau das Richtige sein, der gute Grund, dessentwegen man mich besser ganz schnell vergisst. Später, als wir in der Nieuwe Prinsengracht angezogen miteinander frühstückten, sagte Ilja, gibst du es zu, dass du in Wirklichkeit eine Belle du jour bist? Noch bevor ich ihm widersprechen konnte, verschluckte ich mich an dem ohnehin sehr trockenen Croissant, und er sagte, it’s something marvellous darlin’, a compliment.
22
Seine Bücher schreibt Ilja in englischer Sprache. Immer ist ein jüdisches Schicksal in seinen Geschichten untergebracht. Es ist eine Macke, die er hat und die er konsequent in den letzten sieben Büchern durchgehalten hat. Anfangs, als er selbst nichts von seinen jüdischen Wurzeln wusste, habe ich immer gedacht, er bilde es sich nur ein, jüdische Vorfahren zu haben. Wie immer lachten wir in solchen Momenten, und einmal, nachdem wir in Süddeutschland beide aus unseren neuesten Büchern in einem kleinen Theater vorgelesen hatten, da hat er im Bett versucht, mir seinen ganzen Stammbaum mütterlicherseits zu erzählen. Er hat die halbe Nacht geredet, der Krieg kam in seinen Geschichten vor, der berühmte Corto-Maltese-Comic (Iljas Lieblingsband war die Südseeballade) , Dalmatien im Sommer, wo er alle Ferien verbrachte, Bosnien, Sarajevo und das wunderschöne Lied Što te nema von Jadranka Stojaković, das alle Jugoslawen kannten und das alle, ausnahmslos alle wunderschön fanden. She’s big in Japan now , sagte Ilja. Und mit einem Mal ging es nicht mehr um den Balkan, nicht mehr um das wunderschöne Lied, das eine seiner vier Schwestern immer während der Belagerung gehört habe, irgendwie hatte Ilja eine innere Fährte aufgenommen und über das Shtetl erzählt, ohne dass ich den Übergang vom
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