Das Gedächtnis der Libellen
aus dem gleichen Grund zu Tom-Waits’ Lied Green grass geweint haben. Vielleicht weinen alle Frauen, die Liebeskummer haben, zu allen möglichen Tom-Waits-Liedern, vielleicht sind die Zusammenhänge, die ich herstelle, imaginär und haben keinerlei Bedeutung, und alles, was ich mir vorstelle, gibt es nur in meiner Vorstellung. Und wenn ich es schaffe, meine Vorstellung mit einem Menschen zu teilen, dann teile ich meine Welt mit ihm. Aber dränge ich mich damit nicht auf? Will ich, dass die anderen auch weinen, wenn ich weine? Aber nein. Überhaupt nicht. Außerdem habe ich nie den Unterschied zwischen dem verstanden, was die Leute Wirklichkeit nennen, und dem, was wir uns als solche vorstellen. Müssen wir uns die Wirklichkeit nicht erst ausdenken, bevor sie das wird, eine Wirklichkeit? Ilja schüttelt den Kopf, hör nur auf zu weinen, ja?, sagt er. Und eifrig wie ein Kind wische ich mir mit dem rechten Handgelenk die Tränen weg. Wieder keine Antwort, denke ich, wieder will er nur, dass ich mit dem Weinen aufhöre.
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Ilja weint auch manchmal, ich weiß genau, warum auch ihm das passiert. Statt über seine Tränen zu reden, lügt er. Warum Ilja so oft und so gerne lügt, weiß ich aber nicht. Es stimmt, wenn er sagt, dass ich ein Messer in meinem Herzen habe. (Er sagt es immer, wenn er eigentlich weinen will.) So wie es köstliche Absurditäten in surrealistischen Texten gibt, so gibt es auch ein Messer in mir, dann ist mein Herz so schön wie ein Seismograph . Und wenn mir jemand so wie Ilja nahekommt, dann benutze ich das Messer. Vielleicht ist das Messer aber nur mein Bleiben. Und wenn es ein echtes Messer ist, dann töte ich ja nur mich, nicht irgendeinen anderen Menschen (deshalb habe ich mir einen Namen gegeben, ich habe mir das Recht genommen, mich selbst zu benennen ). Mir geht es nicht um Mord, mir geht es um objektive Zufälle , die durch die Gesetze der Liebe zustande kommen . Um die Idee, aus dem Traum auszusteigen, den das eigene Leben darstellt. Um die Ankunft in einem Dasein, das durchaus präzise Kenntnis von seiner eigenen Erfindung hat. Ilja hätte André Breton gefallen. Immerhin hat er meine Erfindungsgabe gestärkt. L’amour fou also? Das würde zu kurz greifen.
Bald wird Ilja promovieren, in Ethnologie und Kulturanthropologie. Außerdem hat er Lotterie gespielt, für eine Green Card, damit er für immer in Kalifornien bleiben kann. Wenn die Leute in Dalmatien das wüssten, würden sie ihn auslachen. Ilja ist in der Nähe von Šibenik zur Welt gekommen, seine Mutter ist eine Dalmatinerin, deren Großeltern aus Odessa stammen. In der Antike lebten in Odessa verschiedene iranische Steppenvölker wie die Skythen und Sarmaten, und ein thrakischer Stamm, die Tyrageten. Und wenn Ilja und ich lange Zeit getrennt voneinander waren, sagte er schon am Telefon, wenn wir uns wiedersehen, dann kannst du sicher sein, dass ich nicht abendländisch gesittet über dich herfallen werde, sondern skythisch, sarmatisch und tyragetisch – und zwar schon im Taxi.
Iljas Vater war ein Matrose und kommt aus Bosnien. Ich weiß nicht, was das soll, jeder, den ich kenne und der in Dalmatien geboren ist, jeder, aber ausnahmslos jeder, den ich liebe, hat irgendeinen Verwandten oder irgendein kleines Stückchen seiner Wurzeln in Bosnien. Langsam fange ich an zu glauben, dass das eine Bedeutung für mein Leben hat. Mir selbst ist es nicht recht, dass auch ich wegen meiner Mutter so eine bosnische Mathematik in mir trage.
Meine Mutter ist in Sarajevo zur Welt gekommen, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1946. Aber hätte ich Ilja je ohne meine bosnische Mathematik getroffen? Ich habe vor der Begegnung mit ihm ganz vergessen, dass ich sie überhaupt in mir trage. Ohne ihn hätte ich diese Muttermathematik für immer verloren. Ich weiß, das klingt dramatisch, aber das ist es auch, wenn man nicht weiß, woher man kommt, dann weiß man auch nicht, wohin man geht. Ich würde sagen, dass genau das mein größtes Problem bisher war und dieses Problem mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich jetzt bin.
Mama würde Ilja lieben, natürlich würde sie ihn lieben, wenn sie da wäre, wie andere Mütter da sind, sie würde sicher wollen, dass Ilja mich heiratet und es ein großes Fest und eine Braut in Weiß gibt. Aber ich denke nicht daran zu heiraten. Ilja selbst behauptet, dass die Ehe ein Hafen und ein Gefängnis zugleich ist, und er muss es wissen, schließlich ist er verheiratet und schließlich betrügt er seine
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