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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Dramaturgie und Dramengeschichte an der Akademie für Szenische Künste der Universität studiert. Sie stand vor dem Kino wie sonst nur eine Französin vor einem Kino steht, so spezifisch unbeschäftigt, als warte sie auf nichts und niemanden, verbringe ihr Leben dort stehend. Und sie wartete auch nicht, sie tat nur so als ob. Arjeta hatte einen knielangen violetten Rock an. Alles an ihr wirkte pariserisch, aber die Art und Weise, wie sie ein rotes Seidentuch und den Rock miteinander kombiniert hatte, verriet mir ihr Anderssein. Allein schon die Wahl der Farben, die roten Handschuhe und der schwarze lange Mantel offenbarten mir etwas, das ich auf meinen Spaziergängen hier noch nie bei einer anderen Frau gesehen hatte. Sonst trug nur ich Lila und Rot zusammen, und mir hatte einmal eine andere Jugoslawin diesen Farbentipp gegeben. Konnten diese Farben tatsächlich etwas über sie erzählen? Und dann sagte Arjeta, sie wohne vorübergehend in der rue Dauphine 22. Eine zwanghafte Angewohnheit werde ich seit der Jugend nicht mehr los, ich denke immer, dass Zahlen und Buchstaben noch einen tieferen Sinn als nur die Form und die von ihnen etablierte mathematische Bedeutung haben. Wenn jemand in seiner Adresse die Zahlen aus meinem Geburtstag oder Buchstaben aus meinem Namen trägt, fühle ich eine Art Vertrauen zu diesem Menschen, das völlig unbegründet ist und das mich schon oft in schwierige Situationen gebracht hat. Nach Doppelungen bin ich geradewegs verrückt, die interessieren mich besonders. Arjeta ist deshalb nicht sicher vor mir, auch wenn ich harmlos aussehe, ich habe einen schädlichen Blick, ich kann das Dunkle in den Leuten sehen, den Abgrund, ihre heimlichen Amouren. Und gleich geht die Denkmaschinerie los, sofort bilde ich mir ein, irgendeine Art von Schicksal verberge sich dahinter, womöglich auch Verwandtschaft; vielleicht auch das. Ich bilde mir ein, dass mein Wissen etwas mit dem anderen zu tun hat und irgendeine Brücke, sei es auch nur eine über den Abgrund, uns bis auf weiteres wie ein Fatum verbindet.

    Arjeta war wie ich, aber zugleich ganz anders, sie trägt zum Beispiel bis heute nie Kleider, nur Röcke und Hosen. Und ich kann ohne Kleider gar nicht mehr leben. Sie ist trotz ihres pariserischen Aussehens strenggenommen proletarisch. Sie zählt ständig irgendwelche Planeten auf, deren Namen ich nie gehört habe, und ich höre ihr zu wie einer Naturgewalt. Meine Gefühlswelt gehorcht ihr, alles, was sie erzählt, hat etwas ansteckend Lebendiges. Sie erfrischt einen wie das Meer, mit jedem Wort, und ich möchte ihr die Wörter von den Lippen trinken, so sehr klingt alles nach Fülle, nach Erde, was sie sagt; fühlt sich an wie damals die vertrauten Felder, auf denen der Mais und der Klee wuchsen, jene warme rote Erde, in die ich als Kind bloßhändig hineingriff, um dem Geheimnis der Pflanzen auf die Spur zu kommen, dort aber nur auf Wurzeln und Regenwürmer, doch nie auf ein Geheimnis stieß. Arjetas Sätze haben immer einen Höhepunkt, sie spricht wie Musik, mein Gott, sagte ich zu ihr, sogar dein Mund ist musikalisch.
    Es ist kein Zufall, dass sie bei Karahasan studiert hat. Vielleicht würde auch er sagen, dass der Zufall nur etwas für Leute ist, die sich sehenden Auges ihrer Blindheit schon in der Vorvergangenheit anheimgeben. Der Zufall ist nichts mehr und nichts weniger als so eine Art verdammte und verdammt präzise jugoslawische Mathematik, die uns überall im Ausland als Vertraute zusammenkommen lässt, überall, auf französischen Boulevards, in römischen Bussen, in allen möglichen vorstädtischen Kinosälen Europas, in der Schweizer Hauptstadt, an den kleinsten Flughäfen der Welt, in Chicago, wenn auch manchmal nur in der Phantasie, und dann auch in der deutschen Provinz, irgendwo am Rande von irgendetwas, wo das Wort Metropole sich wie ein Mantel von Chanel anhört, wie teures Parfüm, wie Schmuck von Gott weiß wem oder eben von Yves Saint Laurent und wie jene alle heißen, deren Namen den Emigranten wie Namen ferner Kontinente vorkommen müssen, wenn sie an den Abenden mit ihrer Müdigkeit und nicht mit Luxus die Bezirke der Weltmetropolen ausweiten.

    Arjeta ist auch müde, liebt aber schöne Dinge. Doch ein Rest Sozialismus hält sie immer davon ab, sich überaus Teures zu kaufen. Dinge seien letztlich nur Dinge, sagte sie, sie dürften einfach nicht viel kosten (und nicht mit der Wirkkraft der Dinge verwechselt werden). Ein Kleid sei in Paris manchmal so teuer wie ein Auto.

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