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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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beschlossene Fortbleiben der Eltern. Sie hatten mich vergessen. Vielleicht hatte ich mir doch hin und wieder eingebildet, sie würden Amerika für mich aufgeben, zurückkehren, bei mir sein und mit mir leben wollen. Zugegeben hätte ich das aber nie. Dann wieder fand ich es schön, mir die Zigeuner einfach so anschauen zu dürfen, ohne Vaters Geschichten anhören zu müssen. Aber das Gemeine an seinen Geschichten war, dass er sie schon erzählt hatte; er war nicht da, aber seine Erzählungen konnte ich nie wieder aus meinem Kopf löschen.
    Die Tante war immer freundlich und großzügig zu mir. Sie schien von meinen mich selbst überraschenden Träumereien zu wissen, und wenn sie mich beim Grübeln erwischte, sagte sie sanft und freundlich, sie werden nicht wiederkommen, sie sind abgehauen, wie deine Großeltern, haben dich allein gelassen, wie damals dein Vater von seinen Eltern allein gelassen worden ist. Du bist hier. Ich bin hier. Die beiden kommen nicht mehr zurück.
    Im darauf folgenden Sommer habe ich auf dem Dachboden das Album gefunden. Es war voller Spinnweben. Ich habe es ins Wohnzimmer getragen und auf den Esstisch gelegt. Dann habe ich es lange angesehen, wie eine Bibel, die nur für mich geschrieben worden war und von deren Inhalt mein ganzes Leben abhing. Ich war neun Jahre alt, und niemand war da an diesem Tag, nur ich und das Album, die Gegenwart.

    Später, in meiner utopischen Stadt (ich stellte sie mir immer wie ein Gehirn vor, das in all seinen Windungen den Arrondissements von Paris ähnlich ist), habe ich oft Spaziergänge gemacht. An den Sonntagen dachte ich immer an das Album. In meinem Kopf gab es in dieser Wunschstadt einen idealen Bezirk. Dort durfte es keine Vergangenheit geben. Das hatte ich mir so ausgedacht. Aber an den Sonntagen, gerade an den Sonntagen, wenn ich das Gefühl hatte, in meinem Herzen verkrampft sich die Welt, gab es vor allem die Vergangenheit für mich, sogar nichts anderes außer ihr.
    Ich glaube, ich wollte an den geschützten Bezirk glauben, an eine Gegenwart, in der es die heile und ganze Welt gab. Aber ohne das alte Leben, durchsiebt von den Wolkenkontinenten der Sehnsucht und Trauer, konnte das Neue nicht beginnen. Wo die Stadt wirklich begann und an welcher Stelle ich sie mir ausgedacht, in Gedanken ausstaffiert hatte, kann ich selbst nicht mehr nachvollziehen. Ich war überrascht, sie vermischte sich mit meiner Lebensstadt, und sogar Grenzposten gab es dort, so echt, wie Grenzposten nur sein können, richtige Leute, auf der anderen Seite der Grenze. Sie hatten strenge Gesichter, proletarische und andere, feinere, nicht von der Sonne gegerbte wie jene, die ich als Kind stundenlang betrachtet und innig geliebt hatte. Ich muss den Ausdruck innig geliebt benutzen, die deutsche Romantik hat mir zum Leben verholfen, die Aufklärung ist deshalb nicht an mir vorbeimarschiert, das geht gar nicht, denn ohne die Aufklärung hätte ich genauso wenig überleben können, wie ich ohne Ilja nur dahingelebt, aber nie gewusst hätte, wie es ist, um drei Uhr morgens irgendwo in Moskau an einer Bar mit ihm Gin zu trinken und Amy Winehouse jedes Wort zu glauben. Der Gin hat geschmeckt wie die Auferstehung. Das muss an Russland gelegen haben, an dem, was ich als lesender Mensch für Russland halte.

    Ich wollte nicht auf Ilja warten und habe doch auf ihn gewartet. Ich wollte nicht hoffen, aber ich habe gehofft. Ich wollte nicht jemand sein, der Sehnsucht hat und nur Sehnsucht erhält. Aber ich war jemand, der Sehnsucht hatte und der nur Sehnsucht erhielt. Was aber ist die Liebe eigentlich, wenn wir nicht warten, wenn wir nicht hoffen, wenn wir nicht Sehnsucht haben? Ist der Lohn der Sehnsucht je ein anderer als das Geschenk einer weiteren Sehnsucht?
    Vielleicht habe ich immer eine ideale Stadt gesucht, sie gebraucht, so, wie ich jetzt Ilja brauche, um mich aus meiner Erinnerungswelt in eine Gegenwartswelt vorzuarbeiten. Die Stadt schläft. Mein Leben wird sie wecken, eines Tages, wenn ich so weit bin, wenn ich zeitgleich schlafen und wach sein kann. Sie war gut zu mir, die Stadt, die allen Städten ähnlich sah, in denen ich gelebt hatte, und die doch anders als alle Städte war, die ich kannte. In meiner Vorstellung vermischten sich in ihr alle Straßen, auf denen ich in meinem Leben gegangen war, Paris, Split, Sarajevo, New York, München, Berlin, Amsterdam, Frankfurt, alle diese Städte und Kleinstädte wie Nancy und ganz andere Städte wie Marrakesch wuchsen zu einer großen

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