Das Gedächtnis der Libellen
Wenn man nicht viel Geld hat, kommt einem alles so teuer vor wie ein Auto, sagte ich, und wir lachten. Als ich nach Berlin zog, fehlte mir Arjeta sehr. Sie ist länger in Paris geblieben als ich. Sie hatte Verwandte in Meudon-Val-Fleury, und als ich noch in der Nähe vom Jardin du Luxembourg wohnte, gingen wir oft von dort los, um zusammen im Wald zu spazieren, machten uns in Richtung Versailles auf, sammelten Pilze, wunderten uns, dass Marina Zwetajewa, deren Gedichte wir beide auswendig konnten, dort inmitten der großen Wälder Sehnsucht nach »mehr Wald« hatte.
Ihre Sehnsucht nach Russland, die konnten wir gut verstehen, aber vielleicht hatte ihre Sehnsucht nur russischen Kiefern und Birken gegolten und die gab es in Meudon tatsächlich nicht.
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Wie ist Arjeta von Paris nach Berlin gekommen? Wie alle Osteuropäer. Einfach so. Sie war bereit, eine neue Sprache zu erlernen, und jeder, der Paris kennt, weiß, dass es einen auffressen kann und dass man irgendwann nicht mehr man selbst ist, wenn man anfängt, eine andere Form von Körpermusik in sich zu tragen und sich für jeden kleinen Mist zu bedanken und freundlich zu lächeln, obwohl man gerade gar nicht freundlich gestimmt ist. Wenn man zu lange bleibt, wird man zum Phantasma der anderen, besser gesagt, zu einem, von dem man sich vorstellt, dass es ein Phantasma für die anderen sein könnte. Man muss schnell wieder weggehen, wenn man nicht für immer bleiben will. Automatisch gehört man dann sonst dieser pariserischen Gattung Mensch an, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Vielleicht, ja, vielleicht kann man dort bleiben, wenn man immer ein Emigrant sein möchte. So jemand, der wie Emile Cioran am Ende seines Lebens das Gedächtnis verliert. Und weder Kraft hat, es draußen zu suchen, noch es in sich selbst zu finden.
Es liegt aber in der Stadt herum, überall liegt das Gedächtnis herum, hat sich umverteilt auf die dortigen Straßen, Ecken, Bistros, ist übergesprungen auf jeden Spaziergänger, auf jeden Kinogeher, den man dort an einem der Feiertage getroffen hat, und die Kinogeher sind die einsamsten unter allen anderen Alleingehern dort. An Heiligabend trifft man die halbe Stadt in den Kinosälen und alle tun so, als sei es normal, dass sie dort allein sind, allein mit den anderen, die auch allein sind. Vielleicht wollten weder Arjeta noch ich so eine Zukunft haben, nicht das Gedächtnis auf die anderen umverteilen, auf Zufallsbekanntschaften, auf Liebhaber, die wir nie wieder sahen, aber manchmal spontan miteinander teilten, denen wir zwischen den Kinosälen und irgendwelchen neuen Cafés begegneten, in denen Filme gedreht wurden und in die man nie wieder gehen konnte, weil alle Touristen zum Beispiel »Amélies Café« sehen wollten und kein Mensch mehr den Cappuccino danach bezahlen konnte, weil er so teuer geworden war wie ein ganzes Menü im Quartier Latin.
Arjeta lebt jetzt in Wilmersdorf. Wir können uns mit dem Fahrrad besuchen, manchmal fahren wir uns entgegen und treffen uns irgendwo in der Mitte, gehen einkaufen, wissen genau, wann und wo es eine neue Modekollektion gibt, seit letzten Sommer lieben wir alles, was aus Dänemark kommt. Milan Kundera können wir hier nicht treffen. Aber wir brauchen auch keinen Schriftsteller mehr, der uns sagt, dass wir besondere Schuhe anhaben. Das wissen wir schon längst alleine. Auch hier in Berlin geht Arjeta ständig ins Kino, aber nicht mehr allein, in Berlin sind alle schnell miteinander bekannt. Seit fünf Jahren lebe ich in Berlin, Arjeta seit drei, und wir haben so viele Freunde, dass wir uns Ausreden ausdenken müssen, um noch etwas Zeit für die Arbeit zu haben. Arjeta hat in Paris Modedesign studiert und schneidert hier bunte Röcke, Tücher, Hüte. Ich habe Glück, sie näht mir alle Kleider, die ich haben will. Ich denke sie mir aus, und sie denkt sie an den Stoffbahnen entlang in die Welt. Neulich hat am Wannsee ihr früherer Professor aus seinem neuesten Buch vorgelesen, in Deutschland kennt man ihn sehr gut. In Dalmatien muss man ihn noch entdecken, es ist erstaunlich, wie lange ein Krieg dauern kann, wie lange er den Frieden mit seinen Prothesen, Krücken und dienstbereiten Soldaten durchsetzen kann. Posttraumatische Belastungsstörungen dienen noch immer nicht als Mittel zur Aufarbeitung der Vergangenheit.
Der Professor und sie haben einander erkannt. Arjeta hatte mir schon vorher gesagt, sie werde nach dem Vortrag schnell verschwinden, nach Hause gehen, sie ertrage es nicht,
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