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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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man Träume beweisen kann, das eine ist so flüchtig wie das andere auch. Und natürlich habe ich nichts in der Hand, das Ilja als einen echten Menschen aus Fleisch und Blut ausweisen könnte. Ich bin nur in der Lage, darüber zu erzählen, was ich erlebt habe, mit Ilja und mit den Libellen. Jeder, der sich mit Männern und mit Dalmatien, mit der Erinnerung und mit Libellen auskennt, wird sofort sagen, dass ich lüge. Ich aber kann nur wiedergeben, was mir widerfahren ist.

    Ilja war der Einzige, der mir geglaubt hat. Vielleicht weil er selbst ein so guter Lügner ist. Und eben diese ganz bestimmte Mischung aus allem in sich trägt, was es in Jugoslawien gegeben hat. Geschwister habe ich nicht. Sie würden zu mir halten, das weiß ich, wenn ich eine Schwester hätte, oder, was für eine glückliche Vorstellung, zwei Schwestern, ich glaube, sie wären anders als ich, aber sie würden mir Glauben schenken, wir würden eins sein im Glauben. Keine meiner Schwestern würde je die Wirklichkeit meiner Erlebnisse anzweifeln. Aber diese Zeuginnen sind nicht da. Und so kann ich sie auch nicht suchen. Es ist eine Wahl, dass es im Draußen, wie Ilja immer die Wirklichkeit, die überprüfbare Wirklichkeit genannt hat, keine Schwestern und Brüder für mich gibt. Das Draußen ist nur unbekanntes Land, und wenn ich herumgehe, herumsuche, gucke, nach Kinos und nach Fremden, dann entdecke ich, dass ich gar nicht allein bin und dass das, was ich für eine terra incognita hielt, nur eine Einladung ist, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und dennoch nicht die Selbstachtung zu verlieren. In meiner Vorstellungskraft, die Ilja so sehr liebte und so sehr fürchtete, gibt es einen Kontinent aus Sand, und jetzt erst kann ich den Sandkörnern alles anvertrauen und ihrem Verschwinden in aller Ruhe beiwohnen.

    Vielleicht wäre mein Vater wie Ilja Schriftsteller geworden, wenn er sich nicht in der Nachkriegszeit zum Libellenmörder entwickelt hätte. Meine Tante sagte, Vater habe in der Kindheit die Kleider seiner toten Schwester getragen. Die Libellen sind in seiner ersten Sprache schon im Wort selbst nichts anderes als Mittlerinnen zwischen den Welten. Vilski konjić. Das Pferdchen der Feen. Als Kind hat mir das Wort stundenlange Grübeleien beschert. Ich hatte mir immer vorgestellt, Feen seien groß und schlank und natürlich langhaarig und langbeinig und überhaupt viel, viel größer als die braunäugige, von allen begehrte Nachbarin Marina, die das Inbild einer Frau für mich war, weil sie, wenn sie lachte, so schöne Grübchen auf beiden Wangen hatte.
    Noch vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens ist Marina nach Amerika ausgewandert. Sie ging einfach mit einem Köfferchen in der Hand zur Landstraße. Jemand nahm sie nach Split mit. Sie flog über Frankfurt nach New York. Ich habe sie nie wieder gesehen. Sie war die erste Frau, die für mich, in meiner kleinen Kinderwelt, eine richtige Melusine war. Ich träumte sogar noch Jahre danach immer mal wieder von ihr. In meinen Träumen tauchte sie mit einem Schlangenleib auf. Ihr Gesicht sprang dann in eine Art doppelte Spiegelwelt, vervielfältigte sich dort und wurde immer feiner und alabasterfarbener. Während seiner Verwandlung roch es im Traum nach frisch gemähtem Korn. Und während der Geruch sich auf die Bilder legte, verschwand das Gesicht der Frau ganz hinter dem Spiegel, und vor dem Spiegel wurde mein Gesicht eingesetzt, an der Stelle, an der ihres verschwunden war. Vielleicht trug dieser Traum zu meinem Glauben an die Verwandlung bei.

25
    Die Natur, das hat einer meiner damaligen Professoren irgendwo in einer seiner Schriften festgehalten, wie sie die Quantenmechanik beschreibe, erscheine dem gesunden Menschenverstand als absurd. Dennoch, heißt es bei ihm weiter, deckten sich Theorie und Experiment. Und so, schloss mein alter Professor, hoffe er, dass man die Natur akzeptieren könne, wie sie sei – absurd. Heute würde ich sagen, dass es in der Physik einen literarischen Ansatz gibt. Möglicherweise bilde ich mir auch nur ein, dass ich mit dem Schreiben überlebe, am Ende ist das Schreiben auch nur eine von tausend Arten, zielstrebig dem Tod entgegenzugehen. Und Ilja ist am Ende nur ein Teil der Schrift, durch die ich hindurchgehen muss, um nicht am Unwissen zu sterben.

    Damals, vor dem großen Haus, als es friedlich und windstill war, wesenhaft der Sommer kam und ging, wesenhaft war in all seinen Farben, Geräuschen und Gerüchen, da schmerzte dann doch das offenbar für immer

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