Das Gedächtnis der Libellen
diese Zusammentreffen, die sie an ihre Vergangenheit erinnerten. Sie hatte Tränen in den Augen, als ihr einstiger Professor sie mit ihrem Namen ansprach. Ich habe Arjeta nie vorher und auch nie wieder danach weinen sehen.
An diesem Abend weinte sie, ich glaube, es lag gar nicht an der Vergangenheit, bloß an der Art, wie Dževad Karahsan die deutschen und die slawischen Wörter aussprach, so wie sie eben nur ein Bosnier aussprechen konnte, mit so viel behutsamer Zärtlichkeit. Und Arjeta war seit der Flucht aus Sarajevo nicht mehr in ihrer Heimatstadt gewesen, sie will nie wieder dorthin zurück, sagt sie, nie wieder. Und ich nicke, ich weiß, was sie meint, aber es macht mir auch Angst. Viele Jahre wollte ich nie wieder nach Dalmatien zurück, aus anderen Gründen, bei mir war es nicht der Krieg, sondern seine Auswirkungen. Meine Eltern, erzählte mir Tante Filomena, hatten in den neunziger Jahren nach Europa zurückkehren wollen, vielmehr meine Mutter, mein Vater hatte sich in eine Schauspielerin aus New York verliebt und war zu ihr gezogen. Dann brach der Krieg aus, und meine Mutter kam nicht, sie blieb einfach in Amerika, und ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Ihr Blick auf unser aller Vergangenheit wird mir nie offenbart werden. Ich wollte nicht mehr nach Dalmatien gehen, nicht einmal im Sommer. Und zwölf Jahre lang hielt ich das auch durch. Und ging dann doch hin, in einem kalten April, der Hund meiner Tante bellte, als habe er die Tollwut, es regnete, und ich weinte, zusammen mit den Regentropfen flossen mir die Tränen die Wangen hinunter. Die Tante sah es, schimpfte aber nur über das schlechte Wetter. Und seitdem fahren wir ständig dahin. Ich habe uns sogar ein kleines Haus in der Nähe von Split gekauft, ein paar Bücher stehen da schon, die lasse ich absichtlich dort, damit etwas im Haus bleibt und das Haus Ezra und mich nicht verstößt, wenn wir das nächste Mal kommen.
Schweigend gingen Arjeta und ich vom Wannsee zur S-Bahn. Dann fuhren wir in die Stadt, wortlos sahen wir uns ab und zu an, schwiegen aber die ganze Fahrt über. Here we go again , sang James Blunt aus dem überlaut eingestellten I-Pod einer blonden jungen Frau, die sich wie Brigitte Bardot geschminkt und offenbar gerade geweint hatte. Ihr Kajalstift war verschmiert. Schweigend stiegen wir am Savignyplatz aus, Arjeta und ich hatten beide Hunger. Wir gingen zum Italiener an der S-Bahn und bestellten uns Schnaps, noch bevor wir uns für Spaghetti entschieden, tranken wir den Schnaps in einem Zug aus. Die Zeit der Kindheit, sagte ich … Hau ab, sagte sie, die Kindheit … ich werde das Goldene Zeitalter nie wieder zurückholen können.
Ihre Formulierung vom Goldenen Zeitalter machte mich sprachlos, ich schaute weg, nahm mir eine von Arjetas Zigaretten, ging nach draußen, rauchte, und als ich wieder zurückkam, sagte ich, aber jeder Mensch verliert doch seine Kindheit. Auf die eine oder auf die andere Art, fügte ich leise hinzu. Zwischen verlieren und bestohlen werden gibt es einen großen Unterschied, sagte Arjeta. Und wir schwiegen wieder, zusammen, es war ein gemeinsames Schweigen, wie es mir nie mit einem anderen Menschen als Arjeta möglich war. Meine Gedanken drifteten zu Ilja ab, Arjeta umarmte mich, sie wusste, dass ich jetzt nicht mehr bei mir war, und als sie mich umarmte, gab ich ihr einen Kuss auf die Wange. Sarajevo. Mir fiel ein Lied ein, das jeder in Jugoslawien kannte. Jel’ Sarajevo gdje je nekad bilo …
Sarajevo, dachte ich, das wird immer Ilja für mich sein. Die Geometrie von Iljas Liebe ist in seinem intimen Leben versteckt, so nennt er das, was wir miteinander erlebt haben. Ich glaube, er übersetzt da irgendetwas aus dem Englischen und gibt nicht einmal zu, dass er die Formulierung von Buckminster Fuller hat, der von der Geometrie des Denkens gesprochen hat. Ich verrate Ilja nicht, dass ich es weiß, ich verrate ihm überhaupt nichts von mir, obwohl ich ihm alles erzähle, so dass er denken könnte, meine Geometrie habe Platz in seinem intimen Raum. Arjetas Trauer ist mit einem Mal dringlicher als alles, was ich mit Ilja verbinde. Auch sie ist Sarajevo. Sie hat alles in dieser Stadt verloren. Wir schauen uns den Sternenhimmel von Berlin an. Arjeta raucht auf eine besessene Art, wie ich selbst in jenem Sommer geraucht habe, bevor Ilja zu Besuch kam. Manchmal vermischt sich der einfache Zigarettengenuss mit Bildern jenes Tages, an dem Yutel in Jugoslawien ein Festival für Frieden organisierte. Yutel
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