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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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war ein Fernsehsender, der letzte gesamtjugoslawische. Schon der Name hört sich nach etwas an, das man wie einen Gegenstand verlieren kann. Fünfzigtausend Menschen standen bei Regen in Belgrad beisammen. Die schwarzen Listen hatte man schon geschrieben, und langsam fingen die Ersten an, mit Totenköpfen Fußball zu spielen. Die eine Seite filmte Tote, Ermordete, Missbrauchte und präsentierte sie der anderen Seite zur Hauptsendezeit im Fernsehen als die bestialischen Taten der Feinde. Vorher erschafften sie aber zwei mathematisch präzise Seiten. Es war egal, wer die Toten, Ermordeten, Missbrauchten waren. Und genauso egal war es, wer sie getötet, ermordet, missbraucht hatte. Wichtig war nur, dass sie tot, ermordet und missbraucht waren, denn genau das war jetzt vonnöten. Anderswo ging alles ganz normal weiter, alles wie bisher. Die einen fütterten, zeitgleich zur jugoslawischen Nachrichten-Hauptsendezeit, die Enten im Hydepark, die anderen gingen, an ihre Verwandten denkend, in den Straßen von San Francisco spazieren, studierten in München oder betranken sich zum ersten Mal in der Nähe von Frankfurt oder entdeckten das Café Dragonfly in Chicago, und in Berlin rauchte sicher jemand seine erste Zigarette und lernte, wie man küsst, wie man verliert, wie man lacht, Sprachen lernt, und dann lernte ein anderer Deutsch, Wort für Wort, Silbe für Silbe. Neue Adressen, neue Pässe. Der Tod, sagt Arjeta plötzlich, ist die konsequenteste Form der Emigration. Sie sagt immer solche Sachen, ganz plötzlich kommt so etwas aus ihr heraus.

    Früher hätte ich so einen Satz wie Brot gegessen. Aber ich kann jetzt nicht mehr, diese Art Brot macht mich krank. Ich will nicht ständig über den Tod nachdenken und mache es doch. Immer umgeben mich Menschen, die mit mir über den Tod reden und mir erklären wollen, wie man seine eigenen Gedanken kontrolliert. Ich will nicht über den Tod reden, ich will den Tod beschreiben, sein hässliches Gesicht, die Wangen all jener, die ihn auf ihren Lebenskonten mitführen. Und wie sehen die Wangen dieser Leute aus? So wie die Wangen anderer Menschen auch. Die Sache ist die, die Wangen der Mörder sehen manchmal sehr schön aus, wie gemalt. Aber das merkst du erst, wenn dein Bruder gefallen ist, dein Vater keinen Arm mehr hat, dein Nachbar keine Beine mehr, wenn dein Onkel gestorben ist, durch einen zufälligen Schuss, der niemanden treffen sollte, draußen, auf irgendeinem Feld, wenn das Letzte, was dein Onkel gegessen hat, eine Faust voll Erde war und er keinen Zeugen hatte, niemanden bei sich, nichts, außer dieser Erde, die nie vorher mit ihm gesprochen hatte, nie, nur als er diesen letzten Hunger hatte. Es war Hunger nach Leben, den er vorher nie gespürt hatte. Nur weggelaufen ist dieser Onkel, erst nach Deutschland, dann nach Australien, dann ins dalmatinische Dörfchen zurück, zum Schnaps, dann zum Krieg, dann zur Erde, dann zurück zum ersten Hunger: zurück zum Leben. Aber es war zu spät. Das Leben hat ihm nur eine Faust voll Erde gegeben.

28
    War ich mit Ilja je glücklich oder hatte ich nur Sehnsucht nach dem Glück mit Ilja? Arjeta ist natürlich skeptisch. Aber wir wissen beide, dass ich alles andere als schizophren bin. Es ist sicher, wie alles sicher ist (also nichts), dass ich sehr glücklich mit Ilja sein wollte. Mein Bestreben, das Gesicht des anderen mit meinen inneren Augen zu verstehen, ist ein Rätsel, auch für mich. Warum wollte ich es ausgerechnet sein, die ihn genau sieht, die ihm zu einem sprichwörtlich ehrlichen Leben verhilft? Konnte ich denn selbst ehrlich leben – und was ist ein ehrliches Leben? Ist ein bisschen Lüge wirklich nicht erlaubt?

    Was auch immer meine Ehrlichkeit verlangte, ich habe mich überfordert, habe neue Ehrlichkeitsgrenzen erfunden, aber Ilja kann nicht ehrlich leben. Er müsste dafür zugeben, dass er seit Jahren seine Frau betrügt und am Ende kameradschaftliche Freundschaften mit all diesen Frauen schließt, die seine Geliebten waren. Er bringt sie sogar nach Hause mit. Er erfährt schnell alles über sie und findet dann einen Grund, sie mit seiner eigenen Frau zusammenzubringen. Dann gehen sie zusammen in Konzerte, ins Kino, ins Restaurant.
    Ich glaube, seine Frau weiß es und spielt das Spiel mit. Ilja sagt, er werde sie nie verlassen, sie sei ohne Vater aufgewachsen, und wenn er sie verlassen würde, wäre sie verloren. Das glaubt sie selbst sicher auch. Dabei ist es umgekehrt. Ilja ist verloren ohne sie. Vor mir hat Ilja

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