Das Gedächtnis der Libellen
Stadt in meinem Inneren zusammen. Diese innere Stadt ließ meine Gedanken für sich arbeiten. Ich dachte mir jede Straße, jedes Café, jedes Kino aus, fügte hier eine Ecke hinzu, eine Wirtschaft, ein Kino, das ich einst irgendwo gekannt und gerngehabt hatte. Ich dachte mir mein Leben in dieser Stadt aus, meine Erinnerung, alles, was nach Leben aussah, landete in diesem Kreis aus Straßen, Träumen, Reminiszenzen und Versatzstücken aus unzähligen fremden Sprachen. Farben und unbekannte Vögel bekamen natürlich ihren eigenen Platz. Der Kreis wuchs, Stück für Stück, in Spiralen, ein Bezirk aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reihte sich an den anderen, beschirmt von Bäumen, Palmen und mediterranen Gerüchen. Mittendrin das Tosen meines ersten Meeres im Herbst, das stille Blau des Sommers. Später, ja später, das Gedächtnis der Stadt, die meine Stadt in allen Städten war und alle Städte, die zusammen mein Leben ergaben. Ich ging in diesem Leben wie auf echter Erde spazieren. Wohin auch immer ich auf meinen erdachten, zusammengesuchten, gebastelten Straßen ging, wo auch immer ich meinen Kaffee trank und wo immer ich die neuesten Filme sah, eines ging immer mit mir mit: meine Vergangenheit. Ich konnte sie einfach nicht abschütteln. Meine ersten Jahre, ihre bleiernde Schwere. Das Licht des ersten Augusts. Das Land, in dem ich geboren bin und das es so nicht mehr gibt, auch dieses Land ging mit, der alte rote Pass, das alte gesamtjugoslawische Lied. Immerhin, tröste ich mich manchmal in Gedanken an Dalmatien, sprechen sie dort doch noch die Sprache, die auch ich gelernt habe. Es ist nicht wie in Lemberg für einen Polen, ich kann noch immer die Menschen verstehen, ihren Sätzen noch wissend zuhören. Ich weiß, was sie sagen, wenn sie nichts sagen, und ich weiß, was sie verschweigen, wenn sie reden. Noch immer bin ich eine von ihnen. Noch immer kennt man mich dort. Noch immer ist dort der Anfang von allem.
26
Abwesenheit. Du kennst sie in- und auswendig. Du gehst auf dem Boulevard Raspail spazieren, immerzu, in der rue de Rennes, die rue de Rennes hoch und runter gehst du, du kennst diese Straße schon nach einer Woche auswendig, so oft gehst du auf ihr auf und ab, jeden Baum, jede alte Frau, die auf die Straße um sieben Uhr abends schaut, die kennst du auch; alle kennen dich als die, die da jeden Tag geht. Fragst dich, wohin die anderen gehen, so strebsam neben dir, als gäbe es den Winter gar nicht. Sie gehen alle so wie Festentschlossene gehen. Offenbar kennen sie ihr Ziel, haben Hunde, Freunde, Feinde, ein Album voller Bilder; Polaroids von früher, kostbare Beweise ihrer vergangenen Sonntagnachmittage. Das sind ihre Schätze. Wie an einer Silberschatulle halten sie sich an den Schätzen fest, mit Botschaften versehen, die ein Liebender seiner Geliebten gab; damit sie ihn nicht vergisst. Niemals. Ein Kästchen aus Sarajevo, ein Kästchen aus Amsterdam, ein Kästchen aus Leben.
Damals, auf diesen endlosen Pariser Spaziergängen, habe ich Arjeta kennen gelernt. Der Krieg in Jugoslawien hatte gerade begonnen, niemand konnte es glauben, niemand, dass so etwas in Europa geschehen konnte. Das sagten sie jedenfalls alle, in Europa, so sagten sie das, als könnte das Wort an sich den Krieg rückgängig machen. Ich habe in Arjeta sofort eine von uns erkannt, weil sie diesen Unsinn über Europa nicht gesagt und Europa nie etwas zugetraut hat, von Anfang an nicht. Sie war klein, dunkelhaarig und rauchte eine Zigarette nach der anderen, Gauloises, ohne Filter. Sie stand direkt vor dem Kino L’Arlequin, komischerweise wurden gerade alle Filme von Rainer Werner Fassbinder gezeigt, und ich sah sie von da an jeden Abend um die gleiche Zeit dort stehen. Ich fragte mich, ob sie sich jeden Abend etwas anderes von Fassbinder ansah oder jeden Abend dort auf jemanden wartete, so wie ich es gerne getan hätte. Eigentlich war ich mir gleich sicher, dass sie eine Emigrantin war, sie konnte gar nicht etwas anderes sein. Ich sprach sie ein paar Abende später an. Und tatsächlich, sie hatte sich vorgenommen, alle Fassbinder-Filme zu schauen. Ohne Umschweife fragte ich sie, seit wann sie in Paris sei, in unserer Sprache fragte ich sie das. Ohne mit der Wimper zu zucken antwortete sie mir, ebenso ohne zu zögern, in unserer Sprache, auch sie hatte mich erkannt. Ich habe sie nie gefragt, woran eigentlich sie gesehen hat, dass auch ich in Jugoslawien geboren bin.
Sie kam aus Sarajevo, hatte dort 1989 bei Dževad Karahasan
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