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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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ganzen Winter hinweg gelebt haben und dann, so dachte ich mir es jedes Frühjahr, ihre Köpfchen zeigten, weil ich sie erst jetzt sehen konnte und der Winter nun einmal kein solches Sehgebiet ist. Man braucht andere Augen, wenn man liebt. Es gibt nichts, was man im Außen wirklich sehen kann, wenn man es nicht von innen sieht. Das jedenfalls war lange Zeit meine Devise.

    Als ich in Gedanken an meiner idealen Stadt baute, brach im ehemaligen Jugoslawien der Krieg aus. Arjeta kannte ich noch nicht. Ilja auch nicht. An den Flüssen der großen jugoslawischen Städte wechselten die Cafés ihre Besitzer. Wo einst Musik gespielt wurde, traf man sich jetzt nicht, um Neuigkeiten, sondern um Waffen auszutauschen. Wenn eine Razzia kam, anfangs, als es noch den Ansatz einer Ordnung gab, schmissen die Leute die Waffen ins Wasser. Und dann ging alles weiter wie bisher, jedenfalls in der Anfangszeit. Danach sah man überall Waffen. Es schien, dass Waffen an die Stelle der Sprache getreten waren. Und was anfangs nur für jene so schien, die diese Wirklichkeit nicht wahrhaben wollten, wurde Alltag. Die Waffen hatten die Wörter ersetzt. Und es war gleich, wem sie gehörten. Jeder schoss jetzt, wann immer er nur konnte. Dann wurden die Balkanmythen ausgepackt, im weiten Westen bekamen alle möglichen Leute trauernde Gesichter, wenn du als junger Mensch das Wort Jugoslawien sagtest. Manchmal fragten sie mich aus, ich versuchte etwas zu antworten, naive Dinge, so etwas wie In meinem Dorf lebten alle zusammen … Aber schon unterbrach man mich, ja, doch nur, weil ihr musstet. Sie wussten bereits alles, es war leicht, den Balkan in ein Klischee zu verwandeln, um sich selbst außen vor zu lassen. Es war ihnen egal, dass ich die dicke serbische Frau wirklich geliebt habe, weil sie dick und warm und schönäugig war und man nie auf den Gedanken kam, sie in Kategorien zu packen, sie backte doch einfach nur den besten Kuchen für mich, wenn die Tante und ich an den Wochenenden im Dorf waren. Es war mir völlig egal, ob die Kuchenbäckerin Serbin oder Astronautin war, ich liebte sie für ihre bunten Schürzen, für ihr kräftiges Lachen und dafür, dass sie anders als alle anderen Frauen war. Sie passte auf mich auf, zeigte mir, wie ein Kälbchen zur Welt kommt, und so etwas zeigt einem niemand in der Stadt. Du siehst als Kind zum ersten Mal, wie so ein kleines Kälbchen auf seinen wackeligen Beinen steht. Niemals mehr vergisst du dieses Zurweltkommen. Niemals deine Zeugenschaft. Das Heu riechst du noch immer, das kleine Steinhäuschen hast du dir eingeprägt wie kaum je etwas anderes im Leben. Ganz genau riechst du das Fell des neugeborenen Tieres, fühlst seine Wärme, deine Verwandtschaft mit ihm, sein rätselhaftes Geborensein. Dein Anderssein auch, deinen ersten Wunsch, etwas Neugeborenes, Warmes zu berühren, es zu umarmen, es nie mehr loszulassen. Und dann siehst du diesem Tier zu, wie es jeden Tag wackerer wird, jeden Tag mehr Lebendigkeit und Festigkeit in seinen Körper einkehrt, und du nimmst dir eifrig das Tier als Beispiel, du eiferst ihm nach, willst auch so wacker und schön und warm und groß sein wie es. Du erzählst es niemandem, aber so, genau so ist es für dich. Und später wollen dir alle sagen, dass du dieses Erlebnis nicht so wichtig nehmen sollst, es war ja nur ein Tier, dass es einer Serbin gehörte, das ist egal, verstehst du, rufen sie dir noch in die Vergangenheit hinein, in deine ganz persönliche Geschichte, und in dieser Geschichte musst du jetzt bitte Änderungen vornehmen, musst verstehen, dass du damals schön dumm warst, dass nur Dummköpfe wie du Nachbarn und Tiere auf die gleiche Weise lieben können, dass doch alle Nachbarschaft und alle Liebe schlicht und ergreifend verordnet war. Und bitte versteh noch eins: dein erster Lehrer, den du so gern hattest, Genosse Edo, den streichst du jetzt mal auch als netten Menschen, Tito hat ihn nur aus Bosnien als jugoslawisch-muslimisches Integrationsbeispiel nach Dalmatien geschickt. Mag sein, dass dieser Genosse Edo ein guter Mensch war und wohl auch noch liebenswürdig dazu, aber er war nicht von Natur aus nett, er war einfach nur ein Exempel, ein politisches Beispiel, praktisch nur eine Art Ziffer, ein Experiment, nichts weiter, deine Erfahrung mit ihm war bedeutungslos. Also merk es dir: der Krieg war natürlich vorprogrammiert. Die Serbin hat extra guten Kuchen gebacken, damit du einsames Kind auf sie hereinfällst, das war nichts weiter als eine kluge,

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