Das Gedächtnis der Libellen
handlichen, kleinen Stein, den man am Meer irgendeiner fremden Küste gefunden hat. Dann nimmt man den Stein mit, ans andere Ende der Welt, so wie Ilja und ich die Steine damals aus Finnland mitgenommen hatten, man nimmt sie mit, in sein eigenes Zimmer, der Stein wird ein Kamerad, ein Freund, der die eigene Erinnerung stützt, durch die er selbst gegangen ist, um, zusammen mit uns, er selbst zu werden. Diese Art Steine besitze ich, viele habe ich gefunden, überall finde ich sie, überall lese ich in den Linien, die das Wetter in sie eingeschrieben hat, füge sie zusammen zu einem Netzwerk, mache ein Muster aus ihm und meinen Lebensmomenten und Empfindungen. Als Kind nimmt man das Zugeflogene wie einen Apfel und beißt hinein, auch in die Luft kann man beißen und sie schmecken. Welch ein Kontinent doch die Luft ist! Als Erwachsener fügt man das Mosaik langsamer zusammen, auch wenn das ganze Bild immer da ist, immer Wolkenkino, schon immer ganz , sieht man es später nicht mehr. Irgendeine andere Art von Augen bekommt man, bestechliche Augen, die an alles glauben, was sie sehen.
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Als wir uns getroffen haben, hatte Ilja nichts zu verlieren. Er hat es nur geglaubt, dass er etwas zu verlieren hat, alles, er hat gesagt, mit mir würde er alles verlieren, denn die andere Frau sei nicht nur seine Frau, sie sei sein Leben. Es war verletzend, dass er mir diesen Satz, den ich ohnehin nie vergessen habe, auch noch in seinem Abschiedsbrief niederschrieb. Dem Schmerz zum Trotz erschien mir im Gedächtnis Iljas Schweigen als etwas Besonderes. Diese Akribie, mit der ich noch rückwirkend versucht habe, das Gute mit Ilja zu bilanzieren, erscheint mir heute rätselhaft, wie ein Kind komme ich mir vor, das sich so viel vom Festhalten an einem Grashalm versprochen hat. Der Abschied vom Abschied nistete sich in meinen Gedanken ein, ich merkte gleich, dass er mit einer Beharrlichkeit auf sich bestand, dass ich mich ihm nur ergeben konnte. Also ließ ich ihn in mir herumgehen, diesen Abschied vom Abschied, er wird schon irgendwann wie eine reife Frucht vom Baum abfallen, wird schon beizeiten aus mir herausfallen, dachte ich. In der Zwischenzeit lebte ich von der Erinnerung an Ilja. Ich glaube, ich habe Ilja in vielem verherrlicht und insgeheim gedacht, dass er so schweigen kann wie die Mystiker allein sein können, allein und kein bisschen einsam. Vielleicht habe ich Ilja schon immer gesucht, weil er mein Zeichen der Einsamkeit war. Da ich ihn nun gefunden habe, bleibt das Zeichen für immer sichtbar, vor allem in mir selbst. Ich hatte mich in Ilja gefunden, jenen Teil von mir, zu dem ich nie einem Menschen Einblick gewährt habe. Nein, die Einsamkeit in mir wollte ich nie wie das Denken mit einem anderen teilen. Aber Ilja hatte diesen Blick, der direkt in mein Wesensversteck hineinreichte. Als er es sah, blieb es auch mir nicht mehr verborgen, und ich lernte, das Ideale zugunsten des Wirklichen aufzugeben, begriff, dass das Ideale nur im Unterwegssein zu haben, nur in der Bewegung spürbar ist. Ilja wiederum wollte unterhalten werden. Er wusste, dass ich dazu nicht geschaffen war. Und zum ersten Mal wollte ich auch nicht etwas können, was ich einfach nicht konnte. Das, sagte Arjeta, das sei das Ende der Kindheit. Zu wissen, was man kann und was man nicht kann, sei nicht nur eine Lösung für den Moment, sondern eine, die andauert. Und wenn ich jetzt innehalte, im Geist und im Gehen, dann verspüre ich wieder jenes unwirkliche Gefühl, das ich oft bemerke, wenn ich Menschheitsmythen und Märchen lese; es ist der Augenblick, in dem alles still steht und dann das Unheil sich ankündigt, das auch kommt, weil doch alles so weitergeht wie bisher. Stillstand. Das ist die Zeit, in der ich ersticke und in der im Märchen die vergifteten Äpfel als rotleuchtende Wunder über den Zaun gereicht werden. Zwischendrin, schrittweise sichtbar: das kleine Gedächtnis. Dann, fortwährend: das einfache Leben im Draußen der Welt. Sichtbare Welt. Die Felder, Vorgärten, Jasminstauden, die Brücken, Straßen und Briefkästen unserer kleinen und großen Gedächtnisse – unsere Jahre, das Hinschauen auf die klitzekleinen Dinge, auf die Kieselsteine, die auf unseren Fensterbänken liegen und in denen das Rauschen des Meeres wohnt, wenn wir längst schon schlafen. Da spricht der Ozean in ihnen, in ihrer Art des Erinnerns, wie Radiomusik in den alten amerikanischen Filmen, Musik, die uns hilft, ohne den Menschen einzuschlafen, den wir lieben.
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So viele
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