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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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manipulative Strategie, ein Teil der kommunistischen Gleichschaltungsidee, und wahrscheinlich ist sie am Ende ohnehin nur beim Geheimdienst gewesen. Und dein Lehrer Edo, natürlich muss er auch ein Spitzel gewesen sein, was denn sonst, der war doch nicht grundlos nett zu der Tante oder den anderen Nachbarn, der kam doch auf den Hof, um alle auszuhorchen. Doch nicht, weil er ein freundlicher Mensch war. Wer bitte schön war in Jugoslawien einfach mal grundlos ein freundlicher Mensch? Die haben sich doch alle schon vorher bekriegt. Schon viel, viel früher, die Geschichte im Großen wie im Kleinen belegt es doch, wie kriegerisch ihr alle seid.

    Es war klar, dass nur dort unten so etwas geschehen konnte, von einem auf den anderen Tag. Ich weiß nicht, ob ich dazu etwas sagen soll, aber eine Stimme habe ich ja jetzt, da ich verstanden habe, dass Ilja auch nur ein Lügner ist, den ich mir ausgesucht habe, um endlich die innere und die äußere Geschichte zu sehen. Anzuerkennen. Die Wirklichkeit. Den Krieg in mir. Und den Krieg da draußen, den alle so abschätzig nach unten verlegen, um nicht an sich selbst denken zu müssen. Aber habe ich an mich gedacht, mich mir selbst in aller Konsequenz gestellt? Habe ich das Recht, so über die anderen zu sprechen? Ich habe auch weggeschaut. Ich habe vor allem nichts anderes getan, als wegzusehen – in meinem eigenen Leben. Ich brauche viel mehr Kraft für den Frieden in mir als für den Blick auf den Krieg. Mein Krieg war die Flucht, ich bin immer geflüchtet. Vielleicht ist in mir auf der Flucht das Bedürfnis entstanden, mich schließlich doch mitzuteilen, mit den anderen zu reden.
    Die Bücher von Bogdan Bogdanović retteten mir manchmal für Stunden das Leben. Vom Glück in den Städten war so ein Buch, in dem es Formulierungen gibt wie »ein Kreis mit vier Ecken« und in dem über Platons Science-Fiction-Dimension nachgedacht wird. Ich habe erst sehr spät verstanden, dass es im jugoslawischen Krieg nicht darum ging, die anderen als lebendige Wesen zu töten. Die Schönheit war der Feind. Der Krieg galt nicht zuletzt den Städten, weil sie Archive menschlichen Lebens sind, Kohorten von Gefühlen und Herzen.
    Wer auch immer geschossen hat, er hat auf das Schöne, die Bewegung, das Menschsein geschossen. Nicht auf den Feind. Man hat ihnen nur eingeredet, dass sie ihre Feinde ermorden. Es war aber symbolisch die Linie ihres eigenen Lebens, die Verbindung zwischen sich und den anderen. Meine Großmutter mütterlicherseits hat immer behauptet, dass die Welt da draußen von Lichtlinien zusammengehalten wird. Ich habe das immer für eine ziemlich verrückte Idee gehalten, wenn ich die Verwandten darüber reden hörte. Aber am Ende, sagt meine Tante Filomena, bin ich nur deshalb Physikerin geworden, die Linien, die die Welt zusammenhalten, können wir nicht mit dem Auge sehen. Der Krieg ist ein Verräter. Immer. Und überall. Vor, auf und hinter jeder Grenze. Wir verteidigen nicht nationale Grenzen, wir zerstören das Schöne im namenlosen Gegenüber. Unsere Wörter werden zu Granaten, eine Explosion jagt die andere, wir töten mit unseren Gedanken zuerst, wir bilden uns ein, dass nur der Wolf ein böses Tier ist.
    Dabei kann man von Wölfen mehr als von Menschen lernen. Ilja sagt, die Städte seien unsere geistigen Brüder und müssten genauso wie wir eines Tages untergehen. Ilja tröstet sich damit, er sagt solche Dinge, damit er überleben kann. Er hasst sich dafür, dass er Sarajevo verlassen hat und alle anderen dort geblieben sind. Sein Schuldgefühl verfolgt ihn, es ist sein bitteres Erwachen. Jeden Tag beginnen für ihn die neunziger Jahre neu. Immer wieder ist Ilja von neuem auf der Flucht. Und deswegen bin ich traurig, dass der Taxifahrer in Sarajevo geglaubt hat, Ilja sei Franzose. Er hat zwar in Paris gelebt, aber sein Französisch ist das Französisch eines Emigranten, obwohl Ilja dort seinen Doktor gemacht und lange am Boulevard Raspail an der École des Hautes Études unterrichtet hat, sogar noch zu Lebzeiten von Claude Lévi-Strauss. Aber Iljas Stimme ist vom Mond aus als total unfranzösisch erkennbar, er hat diese bestimmte jugoslawisch-sonore Art, die Wörter noch vor dem Aussprechen auf den Lippen zu schaukeln, dass man ihn einfach als Bosnier erkennen muss. Erkennen als Fremden, er ist ein Fremder, wie er im Buche steht. Ein geborener Fremder, dem Sarajevo die Gravur seines Lebensmusters eingeritzt hat. Und Ilja ist kein bisschen sportlich, er kann nicht

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