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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Angst, aber er schreibt mir überallhin, nach Minsk, nach Odessa, nach Marrakesch. Er will nicht, dass ich einen Tag verbringe, ohne an ihn zu denken. Ich denke viel an ihn, ich denke so viel an ihn, dass ich gar nicht merke, wie ich mich dabei aus meinem eigenen Leben wegdenke. Es ist leicht, sich aus dem eigenen Leben wegzudenken, wenn du nie ein eigenes Leben hattest. Ilja sieht mich an, um sich selbst auszulöschen. Ich denke an ihn, damit ich vergesse, dass ich mich auslöschen kann, und damit ich aus den Augen verliere, dass Denken und Sterben manchmal das Gleiche bedeuten.

    Um stärker zu sein als das, was man sieht, muss man bereit sein, sich selbst zu vergessen, so zu vergessen, wie man sich schon kennt. Über welche Art Brücke muss man gehen? Die Brücke ist sprachlose Zeit und auf ihr wird geschossen. Einsamkeit. Alleinsein. Und darunter, das noch tiefere Wasser, irgendeine Art von Exil, wortloses Terrain. Natürlich ist diese Brücke nicht mehr und nicht weniger als die eigene Angst. Es ist eine Binsenweisheit, aber Kraft braucht man trotzdem, um nicht vor der eigenen Angst zu fliehen, sie ist wie ein bissiger Hund, sie schnappt sonst zu, wenn du es am wenigsten erwartest. Ich habe gelernt, den Hund anzulocken. Es war wegen Ilja, ich hätte sonst nicht derart ausdauernd auf ihn gewartet. Obwohl er mir sagte, dass ich nicht warten dürfe (»du darfst nichts bereuen und auf nichts warten«).
    Ich wartete trotzdem, das konnte ich einfach am besten. Zeit spielte keine Rolle, wenn ich auf die Zeit achte, kann ich gleich von der Brücke springen. Das ist keine Art zu leben, niemand schaut auf die Uhr und zählt dabei, wie lange es dauert, bis die eine Erfahrung verbucht ist und die andere auf ihre Erfüllung wartet. Zeit ist nicht Leben. Aber irgendetwas Verrücktes macht die Zeit mit den Menschen. Irgendetwas stiehlt sie und verschwindet mit dem Gestohlenen, so geschickt, dass wir es nicht bemerken.

    Wir haben Steine am Strand gesammelt, ganz viele, Ilja hat immer die allerkleinsten, fast unsichtbaren gefunden, die so klein sind, dass sie niemand sieht. Ich habe alle möglichen gefunden, große und kleine und mittelgroße und mittelkleine. Wir haben die Steine erst in unseren Hosentaschen verstaut und im Hotel auf dem Bett sortiert, nach Farbtönen und Formen und Größen.
    Ilja hat überall eine Geliebte, sein Gedächtnis ist voll von Städten und Frauen, vielleicht bin ich auch nur ein Punkt, eine rotköpfige Stecknadel auf seiner geheimnisvollen Landkarte. Ein Geliebtengedächtnis, so etwas hat mein Ilja, es ist so bunt wie ein Gobelin. Mir hat er von dem Gobelin erzählt. Ist das gefährlich oder gut, frage ich Arjeta, ich meine, dass er mir von diesen Frauen erzählt. Sie schaut weg, das ist natürlich gefährlich, sagt sie rauchend, ohne sich zu mir umzudrehen. Jede Frau ist eine Brücke zu Iljas Dunkelheit. So sieht es Arjeta. Ich sehe es anders, ich glaube, Ilja braucht die Frauen, um wach zu werden. Irgendetwas in ihm schläft so tief und fest, dass er allein nicht aufwachen kann. Er liebt diese Frauen, er sucht etwas, eine Art Restwachheit, und wenn er sie gefunden hat, dann integriert er sie alle, eine nach der anderen, in sein Leben oder in das, was er sein Leben nennt. Einmal hat Ilja gesagt, du vergisst immer, dass ich kein Privatleben habe. Wenn man kein Privatleben hat, dann hat man doch überhaupt kein Leben, habe ich damals gedacht. Aber ich habe es nicht ausgesprochen. Ich hatte Angst, Ilja wegen solcher Sätze zu verlieren. Ich wollte Ilja aber nicht verlieren. Aber dann wollte ich auch nicht in seinen Gobelin integriert werden. Ach Liebes, sagt Arjeta, muss es denn immer Liebe sein? Eine Albanerin aus Boston hat nicht einmal versucht, sich in sein Gedächtnis einzuschreiben, er allerdings auch nicht in ihres. Nach zwei Tagen schon haben sie einander wieder Adieu gesagt. Ilja sagt, sie wollte nicht mehr und nicht weniger als Sex, und den haben sie schon am Nachmittag gehabt, eine Stunde nachdem sie einander begegnet sind.

    Ich habe keine Ahnung wie das geht, wie man sich vor einem Menschen auszieht, den man gerade eine Stunde lang kennt. Vielleicht lerne ich das eines Tages, ich bewundere diese Menschen, genauso wie ich Schauspieler bewundere, die auf Kommando weinen können. Ich glaube ihnen ihre Tränen, sie kommen zwar auf Zuruf, aber sie leben in ihnen, die ganze Zeit leben sie in ihnen, so wie die Maiglöckchen auf meinen ersten Wiesen in meiner Vorstellung auch immer über den

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