Das Gedächtnis der Libellen
rennen. Er braucht das Chaos, seine Liebe gilt dem Unüberschaubaren. Ilja ist noch im sprichwörtlichen Krieg, aber es ist so eine Art Spiel, das er daraus macht. Er hat zwei Pässe, und dass er jetzt eine Green Card gewonnen hat, das hat ihm, wie er sagt, den Weg gewiesen. Unsere transatlantische Liebe war nicht von Bestand. Als ich das für mich so formulieren konnte, bin ich an einem Nachmittag in der Staatsbibliothek auf die Briefe Simone de Beauvoirs gestoßen. Ich habe sie gelesen, die ganzen transatlantischen Liebesbriefe, die sie Nelsen Algren geschrieben hat. Keine Feministin will es wahrhaben, aber die Beauvoir ist romantisch wie alle anderen verliebten Frauen auch. Sie schreibt verzärtelt und hingegeben, überhaupt nicht kämpferisch. Das allerdings irritiert mich selbst. Und allmählich lasse ich die Vorstellung los, dass man je etwas über die Frau an sich sagen kann. (Lieber wäre mir gewesen, Simone de Beauvoir wäre noch die große Ausnahme auch für mich geblieben.) Aber die Green Card lässt mich nicht los. Gleichsam von allein steigt in mir so etwas wie Verachtung auf, ich verachte Ilja dafür, dass er Lotterie gespielt und die Green Card gewonnen hat. Aber warum eigentlich? Vielleicht, weil Ilja dadurch etwas haltlos Bedürftiges von sich gezeigt hat, und eine Green Card zu gewinnen, das hat für mich etwas Würdeloses. Aber die, die darauf angewiesen sind, finden, dass sie durch die Lotterie eine echte Chance bekommen. Das ist jetzt ihre Tür, die neue Weltöffnungstür, auf der in unsichtbaren Buchstaben Push to New York steht, wie damals, auf Ellis Island, als meine Großeltern die Beamten wohl irgendwie bestachen, damit sie, obwohl sie Analphabeten waren, endlich die erste Stadt ihres neuen Lebens betreten konnten.
Ilja sagt, es gibt kein Zurück, es gibt keine Rückkehr. Deswegen ist er froh, dass er weiterhin in Amerika leben kann. Sich von dort aus Europa vorzustellen, die schönen, schlanken Menschen, die in irgendwelchen Brasserien oder Trattorias sitzen und Kaffee trinken, die dort Zeitung lesen und abends mit Freunden tanzen gehen, alle jung, keine Frau ohne Divablick, eben das sei Exil, all das nicht zu haben und sich danach zu sehnen, zu wissen, wenn auch nur in Gedanken, dass man zu diesen Menschen einmal gehört hat und dass sie in der Rückschau noch schöner werden, der Kaffee noch besser schmeckt und die Konzerte noch großartiger werden, wie alles in der Erinnerung großartiger wird, weil die Erinnerung offenbar nicht der Zeit unterliegt. Sollte man also versuchen, ohne Erinnerung zu leben?
Ich weiß nicht, wer ich bin, wenn ich mich von meiner Erinnerung abschneide, wer ich geworden und ob ich jemals ich selbst geworden wäre, wenn ich nicht die Einsamkeit der spinnfädenlangen Sommer erfahren hätte, sitzend vor dem Haus, befreundet nur mit den Liedern aus dem Radio. Auf eine Weise hörte ich Radio, als versteckte sich im Gerät selbst das richtige Leben, als müsste ich nur lang genug zuhören, um es aus dem Metall herauszuzaubern und hineinzuholen in meine kleine, menschenlose Welt. Selbst das Gras schien einsam zu sein, vor sich hinzudarben, von Jahreszeit zu Jahreszeit, auch die Tiere, der gleichen Langeweile wie ich anheimgegeben, und nichts anderes war da, nichts außer der gleichbleibenden, beharrlichen Unveränderbarkeit. So war auch ich, gleichbleibend, beharrlich allein, unverändert namenlos wie jeder Graswipfel einsam und namenlos dort war, weil ich es war. Sonst sind Graswipfel einfach nur Graswipfel. Und wer sieht schon einen einzelnen Wipfel an, niemand, das Gras ist ein Plural von Natur aus, und so schaute man auch auf mich als auf einen Plural, der irgendwie, Zufall oder nicht, eben zu den Menschen gehörte. Das war auch schon alles, keine Berichte vonnöten, niemand wusste etwas von mir. Man kannte nur meinen Namen. Dennoch fühlte ich nicht, dass ich einen hatte. Und so entwickelte ich immer beharrlicher die Überzeugung, dass ich jemand war, der einen falschen Namen hat und den man deshalb leicht vergessen konnte.
29
In der Kindheit fliegt einem alles zu, auch und gerade die Erinnerung, später nimmt man sie sich wie Früchte in einem gut sortierten Laden, und das Zahlungsmittel ist kein Geld, es ist das eigene Leben. Später also, wenn die Dinge zu Dingen werden, der magische Flaum der Luft sie nicht mehr beschützt wie ein aus dem Nichts gekommenes Wunder, muss man sich seine Erinnerung selbst erschaffen, sie betrachten, ganz lange, wie einen
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