Das Geflecht
etwa auf der Höhe des Bauchnabels, trat hinter ihn und packte ihn bei den Schultern.
«Lassen Sie sich nach hinten fallen, Justin. Strecken Sie die Beine aus.»
Justin gehorchte. Seine Füße hoben vom Boden ab. Er schwebte.
«Auf drei!», rief eine Frauenstimme in einiger Entfernung. «Du musst laut zählen, damit ich die Richtung anpeilen kann!»
Tia, erinnerte sich Justin. Die blinde Frau. Was geht hier vor? Was tun sie mit mir?
«Eins.» Er fühlte, wie Leon ihn nach hinten zog. «Zwei.»
Bei «drei» wurde er plötzlich losgelassen. Er spürte ein rasches Dahingleiten, ein seltsames Gefühl im Magen wie in einem sinkenden Fahrstuhl. Ein verspäteter Anflug von Panik erfasste ihn und verdrängte endgültig seine Träume. Er öffnete bereits den Mund, um einen Schrei auszustoßen, als die Bewegung abrupt endete. Jemand packte seine Beine, lief einige Schritte neben ihm her, bis sein Schwung abgefangen war, und hielt ihn fest.
«Alles klar, ich hab ihn!» Tia löste die Riemen an seiner Schulter, dann den Gürtel. Justins Körper kippte in die Senkrechte, seine Füße fanden den Boden. Ihm war schwindlig, und beinahe wäre er auf der Stelle zusammengesackt.
«Alles in Ordnung?», fragte Tia, die ihn stützte.
Justin antwortete nicht. Seine Gedanken verwirrten sich aufs Neue, und die Eindrücke des Augenblicks mischten sich mit den Bildern der Vergangenheit. Wieder dachte er an jene Frau, die er um ein Haar überfahren hätte. Eine Eingebung streifte ihn,so bedrückend, dass er sich nicht davon abhalten konnte, sie auszusprechen.
«War es ein Autounfall?», brachte er mühsam hervor.
Tia erstarrte. Er spürte es deutlich, obwohl er sie nicht sehen konnte.
«Was? Wovon reden Sie, Justin?»
«Der Unfall, durch den Sie blind geworden sind … war es ein Autounfall?»
Tia schwieg eine Weile.
«Ja», sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang seltsam fremd. «Ein Autounfall.»
«Waren Sie allein unterwegs?», flüsterte Justin beklommen.
«Nein, ich war erst zwölf Jahre alt. Meine Mutter ist gefahren.»
«Was ist passiert?»
«Irgendein Irrer hat uns beim Überholen geschnitten, sodass wir in die Leitplanke krachten.»
«Wurde Ihre Mutter auch verletzt?»
«Sie … konnte nicht mehr gerettet werden.»
Justin verstummte. Er hatte es geahnt, schon im selben Moment, als er die Frage ausgesprochen hatte.
Irgendein Irrer,
echoten Tias Worte in seinem Kopf, und sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft.
Jemand, der nicht in der Lage war, die Gefährlichkeit seines Tuns einzuschätzen. Jemand wie ich.
••• 04 : 53 ••• TIA •••
«Schick mir den Gurt wieder rüber!», rief Leon von der anderen Seite des Abgrunds.
Tia fasste sich mühsam. Sie ließ Justin sitzen, wo er niedergesunken war, und griff nach dem Seil, an dessen Ende der Klettergurt hing.
«Bleib genau da stehen, wo du jetzt bist!», instruierte sie Leon und zielte, indem sie seine Stimme anpeilte. «Achtung – jetzt!»
Sie versetzte dem Gurt einen kräftigen Schubs, und er schwang über den Abgrund zurück, genau in Leons ausgestreckte Arme.
«Alles klar!», meldete er. «Gib mir einen Moment, damit ich ihn Dana anlegen kann.»
«Okay.»
Tia war froh über die Pause, denn sie gab ihr Gelegenheit, sich zu sammeln. Justins Fragen hatten sie aufgewühlt, besonders, weil er sich den denkbar unpassendsten Moment dafür ausgesucht hatte. Normalerweise sprach Tia nicht über den Unfall, der sie das Augenlicht und ihre Mutter das Leben gekostet hatte, allenfalls mit engen Freunden, und deren gab es nicht allzu viele. Warum das so war, hätte sie selbst nicht erklären können – es sei denn, sie hätte sich entschlossen, die Theorie ihres Hausarztes in Erwägung zu ziehen, der sie einmal in ein längeres Gespräch verwickelt hatte.
Er behauptete, ich hätte Schuldgefühle, erinnerte sich Tia. Weil meine Mutter gestorben ist, während ich am Leben geblieben bin. Er sagte: «Es wundert mich nicht, dass Sie das Bedürfnis verspüren, bei jeder Gelegenheit Menschen aus Gefahren zu retten. Wahrscheinlich haben Sie unbewusst das Gefühl, Sie müssten irgendetwas wiedergutmachen.»
Tia wusste bis heute nicht recht, was sie von dieser Analyse halten sollte. Im tiefsten Innern jedoch spürte sie, dass ein Fünkchen Wahrheit darin war. Ihre Mutter würde nicht wieder lebendig werden, wenn sie Dana, Justin und Leon aus dieser Höhle rettete – doch es würde ihr zumindest das Gefühl geben, dass ihre eigene Rettung damals
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